Jung Young Moon

Der koreanische Autor Jung Young Moon, geboren 1965 in Hamyang, studierte Psychologie in Seoul und Kreatives Schreiben in Iowa. Er übersetzte unter anderem Raymond Carver, John Fowles und Germaine Greer aus dem Englischen ins Koranische. Seit Mitte der 1990er Jahre veröffentlicht Jung Prosa, die mit renommierten koreanischen Literaturpreisen ausgezeichnet wird, vor allem sein Roman 어떤 작위의 세계 (2011; dt. Was für eine Welt), der bereits eine Bernhard-Stilübung in Form eines Bewusstseinsstroms im ersten Kapitel enthält. Jungs Werke binden vielfach westliche Orte ein, von San Francisco bis Versailles, so auch in 바셀린 붓다 (2010; dt. Vaseline-Buddha, 2015), in dem das Reisen in einer bernhardschen einerseits-andererseits-Konstruktion problematisiert wird:

Und tatsächlich befinde ich mich in einem fortwährenden inneren Konflikt darüber, ob ich meine Fantasien erhalten soll, indem ich zu Hause bleibe, oder ob ich mit ihnen aufräumen soll, indem ich verreise. Dieses gemischte Gefühl habe ich beispielsweise auch, wenn ich an Turin denke, eine Stadt, in die ich irgendwann einmal unbedingt reisen wollte. Das Dilemma, in welchem ich hier stecke, besteht darin, dass ich mich frage, ob ich meine innere Vorstellung von Turin komplett zerstören soll, was ja mit Sicherheit passieren würde, sobald ich einen Fuß in diese Stadt setzen würde, oder ob ich lieber nicht dorthin fahren und meine Fantasievorstellungen erhalten soll. Dieses Dilemma ließe sich vielleicht auflösen, indem ich zunächst nicht dorthin reise und meine inneren Vorstellungen von Turin dadurch noch eine Weile schone, bevor ich dann doch dorthin fahre und mitansehe, wie die Stadt Turin all meine Turin-Fantasien gründlich zunichte macht.

Jung Young Moon: Vaseline-Buddha, übers. von Jan Henrik Dirks, Graz und Wien: Droschl 2015, S. 168f. 

 

Jung, der im südkoreanischen Literaturbetrieb lange Zeit als exzentrischer Einzelgänger galt und sich immer wieder länger in den USA aufgehalten hat, stattet die Hauptfigur von Vaseline-Buddha mit einem gespaltenen Verhältnis zu ihrem Herkunftsland aus, mit Verweis auf Thomas Bernhard:

Außerdem dachte ich über Schriftsteller wie Beckett oder Thomas Bernhard nach, die ebenso wie beispielsweise auch Oscar Wilde ihr eigenes Heimatland nicht ausstehen konnten und ihm deshalb den Rücken kehren wollten, dachte über das Land nach, in dem ich geboren und aufgewachsen war und in dem ich immer noch lebte, und darüber, dass eine der größeren Taten, die ich für dieses Land vollbringen wollte, gewesen wäre, es auf welche Weise auch immer, obwohl es eigentlich auch keinen Ort gab, wo ich unbedingt gerne hinreisen und mich niederlassen wollte, für immer zu verlassen.

Jung: Vaseline-Buddha, S. 112.

Neben dem humorvollen Unterton, der auch in Vaseline-Buddha zu vernehmen ist, kombiniert Jung oft bedrückende Themen und groteske Inhalte mit einem teils redundant-verschlungenen, teils apathischen Stil. Besonders düster fällt der 1998 erschienene Band 검은 이야기 사슬 (dt. Eine Kette dunkler Geschichten) aus, der 45 Kurzgeschichten mit Titeln wie »Das Totenbettgebet«, »Der Bestatter«, »Schwarzes Loch«, »Sich selbst erschießen«, »Hinrichtung« und »Dem Tod ähnlich« in sich versammelt. Bernhards Ruf als Düsterling, der nach eigenen Angaben »die immer gleiche totale Finsternis in meinen Büchern« darstellt, weil eben in der Finsternis »alles deutlich« (Bernhard 2015: 58) wird, lädt häufig zu Vergleichen ein: Autor:innen werden aufgrund der Negativität oder Abgründigkeit ihrer Texte von der Kritik oder ihren Verlagen mit Bernhard in Verbindung gebracht.

In der südkoreanischen Literatur (vgl. Jang 2007: 112) betrifft dies etwa Oh Taeseok (geb. 1940), dessen Theaterstück 희곡집 <심청이는 왜 인당수에 몸을 두 번 던졌는가> (1994; dt. Warum das Mädchen Sim-Tscheong zweimal ins Wasser ging, 1996) neben dem Brechtschen Erbe auch in die Tradition Bernhards gesetzt wurde (vgl. Bräsel 2012: 36), ohne dass Ähnlichkeiten jenseits von gewissen Handlungs-Tristessen auszumachen wären. In Jungs Kurzgeschichtensammlung hingegen findet sich eine auch stilistisch an Bernhard erinnernde Geschichte mit dem irreführenden Titel »Familienliebe«, die ohne Punkt und Absatz eine geläufige Familienkonstellation porträtiert:

Nach dem Abendessen, als alle Familienmitglieder wie üblich im Wohnzimmer saßen und Obst aßen, lachten und über ihren Tag und ihre Pläne sprachen, fingen sie plötzlich an, wie Schimpansen auszusehen, und ich konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen, nicht einmal ein bisschen, und als ich es nicht mehr aushalten konnte, stand ich, im richtigen Moment,  leise auf, während die ganze Familie mich mit überraschten Blicken anstarrte, als wäre ich ein Fremder – ja, sie haben nie wirklich akzeptiert, wer ich bin – und während ich ihren entsetzten Blicken auswich, eilte ich die Treppe hinauf in mein Zimmer, mit gesenktem Blick, als hätte ich eine unverzeihliche Sünde begangen [...].

Jung Young Moon: 검은 이야기 사슬 [Eine Kette dunkler Geschichten], Seoul: Moonji Publications 1998, n. p. (Übers. J. W.).

 

Die in dieser Kurzgeschichte beschriebene Entfremdung und zugleich Verhaftung eines jugendlichen Ichs von der eigenen Familie, vor deren belanglosem Geschwätz und fürchterlichem Lachen das Ich nicht entkommen kann, kennt insbesondere die Figur des Sohns in Bernhards Erzählung »Montaigne«, die sich ebenso unverstanden wie verfolgt fühlt und in die Turmbibliothek der Familie flüchtet:

Den ganzen Nachmittag hatten die Meinigen mich mit ihren Geschäften gequält und mir, indem sie ununterbrochen auf mich einredeten oder mir gegenüber gänzlich geschwiegen hatten, worüber zu reden gewesen wäre, vorgehalten, daß ich ihr Unglück sei. Daß ich es mir zur Methode gemacht hätte, gegen sie und gegen ihre Verhältnisse zu sein, gegen ihre Geschäfte und gegen ihr Denken, welches doch auch das meinige sei. Daß ich mir zur Gewohnheit gemacht hätte, ihr Denken zu zersetzen, sie zu verhöhnen, sie zu zerstören und zu töten. Daß ich alles in mir darauf anlegte, sie zu zersetzen und zu zerstören und zu töten. Tag und Nacht grübelte ich nichts anderes und ginge, wenn ich aufgewacht sei, gegen sie vor.

Thomas Bernhard: »Montaigne«, in: Erzählungen, Kurzprosa [= Werke 14], hg. von Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. S. 415.

 

C. S., J. W.

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: »Montaigne«. In: Erzählungen, Kurzprosa [= Werke 14], hg. von Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. 

Bernhard, Thomas: »Drei Tage«. In: Journalistisches, Reden, Interviews [= Werke  22.2, »Reden, Interviews, Posthume Veröffentlichungen«], hg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Berlin: Suhrkamp 2015. S. 54-66.

Bräsel, Sylvia: »Weiblichkeitsentwürfe und Familienmodelle in der europäischen und koreanischen Literatur«. In: Kultur Korea 4 (2012). S. 35-36.

Jang, Eun-Soo: »Thomas Bernhard in Korea«. In: Cultura Tedesca 32, Jänner-Juni 2007 (»Thomas Bernhard«). S. 105-113.

Jung, Young Moon: 검은 이야기 사슬 [Eine Kette dunkler Geschichten]. Seoul: Moonji Publications 1998.

Jung, Young Moon: Vaseline-Buddha, übers. von Jan Henrik Dirks. Graz, Wien: Droschl 2015.