Agustina Bazterrica

Agustina Bazterrica (geb. 1974) ist seit einigen Jahren aus der argentinischen Literaturszene nicht mehr wegzudenken. Sie studierte bildende Kunst an der Universidad de Buenos Aires und ist ausgebildete Opernsängerin. Der literarische Durchbruch gelang ihr 2017 mit ihrem dystopisch-brutalen Roman Cadáver exquisito (dt. Wie die Schweine, 2020), der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und zu einer TV-Serie adaptiert werden soll. Der Roman thematisiert am Beispiel von ›Nutzmenschen-Produktion‹ die Grausamkeit der Fleischindustrie. Ähnlich düster sind die Themen ihrer Erzählungen, die 2019 unter dem Titel Diecinueve garras y un pájaro oscuro (dt. Neunzehn Krallen und ein dunkler Vogel) veröffentlicht wurden.

Man hatte Elena-Marie Sandoz am Friedhof der Silbernen Kreuze begraben. Man hatte sie in ein verfallenes, namenloses Grab, bestimmt für Unerwünschte, geworfen. Niemand wollte sich nachts dem Friedhof der Silbernen Kreuze nähern, denn die Gräber waren in sehr schlechtem Zustand. Der Grund, warum die Gräber des Friedhofs der Silbernen Kreuze in sehr schlechtem Zustand waren, war nicht zu erahnen, denn alle zahlten die monatliche Gebühr, die die städtische Kommission, die für die Instandhaltung des Friedhofs der Silbernen Kreuze zuständig war, einforderte. Aber es gab, meiner Meinung nach, einen unbewussten Grund, warum sich niemand tatsächlich um die Instandhaltung des Friedhofs der Silbernen Kreuze kümmerte. Der Grund, der versteckt in den Köpfen aller Menschen blieb, in leiser und verborgener Form, war, dass die Gräber in ihrem schlechten Zustand die Monotonie ihres Lebens erschütterten. Die Menschen sind fähig, alles zu tun, um die Monotonie ihres Lebens zu zerstreuen. Sie sind fähig, zum Friedhof der Silbernen Kreuze zu gehen und Stunden vor den Gräbern in schlechtem Zustand zu verbringen, um zu sehen, ob dort etwas wächst oder sich bewegt, aber sobald die Nacht hereinbricht, fliehen diese Menschen, um sich in der monotonen Realität ihres Lebens zu verkriechen.

Agustina Bazterrica: »Elena-Marie Sandoz«, in: Diecinueve garras y un pájaro oscuro, Buenos Aires: Alfaguara 2019, n. p. (Übers. M. T.)* 

Die Erzählung »Elena-Marie Sandoz« beschreibt die Konsequenzen einer Obsession. Eingangs wird die Titelfigur am Cementerio de las Cruces Plateadas (dt. Friedhof der Silbernen Kreuze) begraben. Der Erzähler rollt die Vorgeschichte auf: Fasziniert von Sandoz’ äußerst kurzem Auftritt in einem völlig erfolglosen Kinofilm, hat er begonnen, sie zu stalken. Ihr alltägliches Auftreten enttäuscht ihn allerdings, woraufhin er ihr Briefe schreibt, die ihren Suizid beschleunigen sollen.

Alles an ihr strömte einen Duft von Elend und Erschöpfung aus. Der tagtägliche fürchterliche Schönheitsfehler von Elena-Marie Sandoz zwang mich, ihren endlosen und kontinuierlichen Selbstmord, auf den sie sich eingelassen hatte, zu beschleunigen, um zu verhindern, dass die schmerzhafte Realität von Elena-Marie Sandoz das einzigartige Bild von Elena-Marie Sandoz entartete, das Bild, das, wie gesagt, mein alleiniger Besitz war.

Bazterrica: »Elena-Marie Sandoz«, n. p. (Übers. M. T.)** 

Bazterrica schreibt mit »Elena-Marie Sandoz« eine Bernhard-Imitation, die explizit als solche ausgewiesen ist (vgl. Zunini 2020). Ihr Vorhaben vergleicht sie in einem Interview mit Horacio Castellanos Moyas Bernhard-Roman El asco: Thomas Bernhard en San Salvador (vgl. Bazterrica 2021). Sie reiht sich damit in die lange Liste lateinamerikanischer Autor:innen ein, die Bernhard produktiv rezipieren (vgl. Sáenz 2018: 496), auch in den letzten Jahren, wie die Argentinierin Pola Oloixarac oder die Mexikanerin Alejandra Gómez Macchia. Gleich auf den Titel der Erzählung folgt ein Bernhard-Zitat ohne Quelle, »...la horrible imperfección cotidiana...« (Bazterrica 2019: n. p.), das aus einer Passage der autobiographischen Erzählung Der Keller. Eine Entziehung (1976) stammt, in der das Ich die Scherzhauserfeldsiedlung beschreibt, ein seinerzeit als Schreckensviertel geltender Teil von Salzburg, »der tagtägliche fürchterliche Schönheitsfehler« (Bernhard 2004: 128f.), in dem das Ich seine Lehre beim Lebensmittelhändler Podlaha beginnt.

Das Zitat verwebt Bazterrica auch in die Handlung ihrer Erzählung, in der Sandoz’ unvollkommenes alltägliches Leben – im Vergleich zu ihrem perfekten Filmauftritt – schließlich in eine Katastrophe mündet. Bazterricas Imitation, die sich auch in unkonventionellen Kursivierungen, Schachtelsätzen und motivischen Überlappungen (trostlose Gestalten, Friedhöfe, Obsessionen) zeigt, erscheint dennoch einerseits zu erzählerisch, andererseits zu direkt und brutal, um von Bernhard stammen zu können. Bazterrica meint schließlich selbst, Bernhard könne gar nicht imitiert werden, dafür wäre er ein zu großes Genie (vgl. Bazterrica 2021).

 

M. T.

Zitate im Original

* »Habían enterrado a Elena-Marie Sandoz en el cementerio de las Cruces Plateadas. La habían tirado en una tumba maltrecha y sin nombre, destinada a los indeseables. Nadie quería acercarse, por la noche, al cementerio de las Cruces Plateadas porque las tumbas estaban en muy mal estado. La razón por la cual las tumbas del cementerio de las Cruces Plateadas estaban en muy mal estado era insospechada porque todos pagaban la cuota mensual que exigía la Comisión Municipal que dirigía el mantenimiento del cementerio de las Cruces Plateadas. Pero, en mi opinión, había una razón inconsciente por la cual nadie se ocupaba efectivamente del mantenimiento de las tumbas del cementerio de las Cruces Plateadas. La razón, que permanecía agazapada en la mente de todos, en forma silenciosa y encubierta, era que las tumbas en mal estado producen terror a la monotonía de sus vidas. Las personas son capaces de hacer cualquier cosa por disipar la monotonía de sus vidas. Son capaces de ir al cementerio de las Cruces Plateadas y pasarse horas frente a las tumbas en mal estado intentado ver si dentro algo crece o se mueve, pero en cuanto se aproxima la noche esas personas huyen para esconderse en la realidad monótona de sus vidas.« (Bazterrica 2019: n. p.)

** »Todo ella despedía un aroma a miseria y cansancio. La horrible imperfección cotidiana de Elena-Marie Sandoz me obligó a acelerar el suicido interminable y constante en el que se había embarcado para evitar que la realidad penosa de Elena-Marie Sandoz degenerara la imagen única de Elena-Marie Sandoz, imagen que, como se ha dicho, era de mi exclusiva posesión.« (Bazterrica 2019: n. p.) 

Literaturverzeichnis

Bazterrica, Agustina: »Elena-Marie Sandoz«. In: Diecinueve garras y un pájaro oscuro. Buenos Aires: Alfaguara 2019.

Bazterrica, Agustina: Interview mit Aitor Arjol. In: Letras Nómadas, 20. Dezember 2021, https://www.youtube.com/watch?v=Z9miA7LIsFA (eingesehen 6. Juni 2022).

Bernhard, Thomas: Der Keller. Eine Entziehung. In: Die Autobiographie [= Werke 10], hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

Sáenz, Miguel: »Die spanischsprachigen Länder«. In: Bernhard-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Stuttgart: Metzler 2018. S. 496-497.

Zunini, Patricio: »Agustina Bazterrica: ›Soy una escritora truculenta; mi madre usa esa palabra‹«. In: infobae.com, 12. September 2020, https://www.infobae.com/cultura/2020/09/12/agustina-bazterrica-soy-una-escritora-truculenta-mi-madre-usa-esa-palabra/ (eingesehen 6. Juni 2022).