Anuk Arudpragasam

Durch die Jugendlektüre von Descartes’ Meditationen zur Philosophie gekommen, studiert der 1988 in Colombo, Sri Lanka, geborene Anuk Arudpragasam an der Stanford und der Columbia University in den USA. Das Werk, das ihn nicht zuletzt wegen seines philosophischen Gehalts zum Schreiben bringt, ist Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (vgl. Braneck 2021: n. p.). Das Debüt des auf Tamil und Englisch schreibenden Arudpragasam, The Story Of A Brief Marriage (2016), wurde bereits als Die Geschichte einer kurzen Ehe (2017) ins Deutsche übersetzt. Mit A Passage North (dt. Ein Weg nach Norden) erscheint 2021 sein zweiter Roman, der es auf die Shortlist des Booker Prize schaffte.

 

 

In einem Interview anlässlich seiner Nominierung für den Booker Prize 2021 eröffnet Anuk Arudpragasam, dass A Passage North vom Stil Thomas Bernhards und Javier Marías’ inspiriert sei (vgl. Arudpragasam 2021a: n. p.), insbesondere von Bernhards Rhythmik und seinen häufigen Abschweifungen. Arudpragasams teils lange musikalische Sätze, die in verschiedene Richtungen mäandern, bestätigen dies durchaus. Als konkretes Modell hat er, der eine Reihe von Bernhard-Romanen (»a number of Bernhard novels«, Arudpragasam 2022: 10:39-41) gelesen hat, Auslöschung. Ein Zerfall (1986) ausgewählt:

 

»In gewisser Weise war es für mich eine Art Lehre, eine Art zu lernen, wie man schreibt und wie das Schreiben seine Bedeutung bekommt; und ich meine, das war einer der Gründe, warum ich ausdrücklich ein Buch als Modell gewählt habe, das nicht gerade einfach ist, weil ich sehen wollte, wozu ich fähig bin und was ich durch die Umsetzung lernen kann.«

Anuk Arudpragasam: »The Granta Podcast«. In: Granta – The Home of New Writing, Ep. 101, 27. Mai 2022, 10:06-26 (Übers. J. W.).*

 

Das erstrebte Ergebnis dieser ›Lehre‹ ist mit A Passage North ein Roman, der sich intensiv dem Innenleben einer einzelnen Figur widmet, ihr Bewusstsein vermittelt. Einen Großteil der Handlung bilden daher die inneren Monologe und Überlegungen des Erzählers Krishan. Er nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise von seiner Heimatstadt Colombo in den Norden Sri Lankas, unterwegs zum Begräbnis von Rani, der Pflegerin seiner Großmutter Appamma. Während der Zugfahrt reflektiert Krishan über seine Studienzeit in Delhi, seine gescheiterte Beziehung mit einer Aktivistin aus Indien, wie auch über den vergangenen Bürgerkrieg in Sri Lanka und die separatistische Miliz ›Tamil Tigers‹. Wiederkehrende Themen seiner vorsichtig hoffnungsvollen Gedanken sind, neben seiner Selbstfindung, das Altern Appammas und Ranis Leben nach dem Krieg, traumatisiert vom Tod ihrer beiden Söhne.

Ranis Tod, womöglich von ihr selbst herbeigeführt, ist Gegenstand einer von mehreren aufwühlenden Nachrichten, die Krishan eingangs erhält, das erste Kapitel ist mit ›Message‹ übertitelt, äquivalent zu Bernhards ›Das Telegramm‹ in Auslöschung. Bernhards Angewohnheit, Handlungen mit schlechten Nachrichten in Gang zu setzen, wurde von mehreren Autor:innen literarisch aufgegriffen (darunter Patrick Cottrell, Tim Parks, Nicolas Stakhovich). Das große Gewicht des en passant erwähnten und doch so gedankenbestimmenden Telegramms an Bernhards Hauptfigur Franz-Josef Murau findet bei Arudpragasams Helden seine Entsprechung in einem Anruf.

Er versuchte, über den Anruf nachzudenken und darüber, was er erfahren hatte, über Ranis Tod und wie er geschehen war, aber die Nachricht kam ihm immer noch unwirklich vor, wie etwas, das er noch nicht einschätzen oder verstehen konnte. Er empfand weniger Traurigkeit als eine Art Scham darüber, wie ihn die Nachricht mitten in seinen selbstbezogenen Gedanken über Anjums E-Mail und seiner Ungeduld im Umgang mit seiner Großmutter erwischt hatte, als wenn ihn der Anruf, durch das Herausreißen aus seinem gewöhnlichen Bewusstsein, gezwungen hätte, paradoxerweise nicht an Rani, sondern an sich selbst zu denken, sich von außen zu betrachten und das Leben, in das er eingetaucht war, aus der Ferne zu sehen.

Anuk Arudpragasam: A Passage North, London, New York: Hogarth 2021, S. 14 (Übers. J. W.).**

 

Das Grübeln über das Telegramm – und die Angemessenheit der eigenen Reaktion darauf – durchzieht Auslöschung. Murau, der sich vor der Nachricht vom Autounfall seiner Familie »zu schützen« (Bernhard 2009: 303) und »abzulenken« (43) hatte, beharrt mehrfach darauf, »nicht erschüttert« (235) zu sein. Diese »gleichgültige Verfassung« (Bernhard 2009: 303) kommt am drastischsten in den ersten vier Sätzen des Romans zur Geltung:

Nach der Unterredung mit meinem Schüler Gambetti, mit welchem ich mich am Neunundzwanzigsten auf dem Pincio getroffen habe, schreibt Murau, Franz-Josef, um die Mai-Termine für den Unterricht zu vereinbaren und von dessen hoher Intelligenz ich auch jetzt nach meiner Rückkehr aus Wolfsegg überrascht, ja in einer derart erfrischenden Weise begeistert gewesen bin, daß ich ganz gegen meine Gewohnheit, gleich durch die Via Condotti auf die Piazza Minerva zu gehen, auch in dem Gedanken, tatsächlich schon lange in Rom und nicht mehr in Österreich zuhause zu sein, in eine zunehmend heitere Stimmung versetzt, über die Flaminia und die Piazza del Popolo, den ganzen Corso entlang in meine Wohnung gegangen bin, erhielt ich gegen zwei Uhr mittag das Telegramm, in welchem mir der Tod meiner Eltern und meines Bruders Johannes mitgeteilt wurde. Eltern und Johannes tödlich verunglückt. Caecilia, Amalia. Das Telegramm in Händen, trat ich ruhig und mit klarem Kopf an das Fenster meines Arbeitszimmers und schaute auf die vollkommen menschenleere Piazza Minerva hinunter. Ich hatte Gambetti fünf Bücher gegeben, von welchen ich überzeugt gewesen bin, daß sie ihm für die nächsten Wochen nützlich und notwendig sein werden, und ihm aufgetragen, diese fünf Bücher auf das aufmerksamste und mit der in seinem Falle gebotenen Langsamkeit zu studieren […].

Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall [= Werke 9], hg. von Hans Höller, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 7.

 

Die Hauptfiguren werden von den jeweiligen Nachrichten aus ihrem Alltag und in einen Strudel aus Reflexionen und Erinnerungen gerissen. Beide kehren nach einem Auslandsaufenthalt zum ersten Mal seit längerer Zeit in ihre Heimatorte zurück, beide sind auf dem Weg zu einem Begräbnis, dessen Trauergäste sodann genau betrachtet werden. Trotz des geteilten Blicks auf die wenig beachteten Ränder der sich ereignenden Dramen und der »Todesnähe« (»proximity to death«, Arudpragasam 2022: 8:48; Übers. J. W.) als Haupttopos, distanziert sich Arudpragasam von jener Seite in Bernhards Schreiben, die er als »voller Verrat, Bitternis, Pessimismus, Verletztheit« (»full of betrayal, bitterness, pessimism, woundedness«, 12:00-06) ansieht – diesbezüglich sei A Passage North »überhaupt nicht wie ein Bernhard-Roman« (»nothing like a Thomas Bernhard novel«, 12:15-17). Auch Tiraden sucht man bei Arudpragasam vergeblich, sein Held Krishan bleibt auch dann sehr höflich, wenn er die ihn umgebenden Missstände kritisiert.

Die vollständige Fokussierung auf das Innenleben einer Figur, die in Arudpragasams Augen Bernhardscher Anspruch ist, muss er, in Anbetracht des Hereinbrechens der realen Außenwelt Sri Lankas in die Handlung seines Romans, aufgeben (vgl. Braneck 2021: n. p.). A Passage North ist ein ausdrücklich politisches Werk. Aber auch darin besteht eine Nähe zu Auslöschung, das von manchen gar als Bernhards »einziges dezidiert politisches Buch« (Weinzierl 1991: 192) erachtet wird, aufgrund der darin geäußerten Forderung nach Wiedergutmachung des vom Staat begangenen Unrechts an einem Bergmann. Dieser ist, wie Murau mit großer Empörung berichtet, wegen des Hörens eines Schweizer Radiosenders denunziert und in ein Konzentrationslager gebracht worden, ohne später vom Staat »die geringste Entschädigung« zu erhalten, während sich nationalsozialistische »Massenmörder« auf eine »immense Pension« (Bernhard 2009: 350) freuen könnten. Arudpragasam richtet seine Aufmerksamkeit auf den 2009 beendeten Bürgerkrieg in Sri Lanka und webt den Wunsch nach Aufarbeitung von Kriegsverbrechen in seinen Roman ein. Krishan verkörpert das Unbehagen, vor allem junger Menschen, in der sri-lankischen Gesellschaft nach dem Krieg: Als Rückkehrer will er sich neu einleben, kann sich dem Fortwirken der Vergangenheit seines Landes jedoch nicht entziehen. Auch das verbindet die Werke: Ihr Erscheinen fällt in eine Umbruchphase, in der die umfassende Aufarbeitung des Geschehenen noch aussteht.

 

V. E., J. W.

Zitate im Original

* »In a way it was a kind of apprenticeship for me, it was a way of learning how to write and learning how writing gets its significance and, I mean, that was part of why I explicitly chose the modeling on a book that isn’t exactly easy because I wanted to see what I was capable of and what I could learn from executing it.« (Arudpragasam 2022: 10:06-26)

** »He tried to think about the phone call and what he had learned, of Rani’s death and how it had occurred, but the news still felt unreal to him, like something he couldn’t yet appreciate or understand. He felt not so much sadness as a kind of embarrassment for the way the news had caught him, in the midst of his self-involved thoughts about Anjum’s email and his impatience in dealing with his grandmother, as if by jarring him out of his ordinary consciousness the call had compelled him to think, paradoxically, not about Rani but himself, to look at himself from the outside and to see from a distance the life in which he’d been immersed.« (Arudpragasam 2021: 14)

Literaturverzeichnis

Arudpragasam, Anuk: »Anuk Arudpragasam Q&A« (Interview). In: The Booker Prizes, 2021[a], https://thebookerprizes.com/anuk-arudpragasam-qa (eingesehen 23. März 2022).

Arudpragasam, Anuk: »The Granta Podcast«. In: Granta – The Home of New Writing, Ep. 101, 27. Mai 2022, https://granta.com/podcast-anuk-arudpragasam/ (eingesehen 8. Juni 2022).

Arudpragasam, Anuk: A Passage North. London, New York: Hogarth 2021.

Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall [= Werke 9], hg. von Hans Höller. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.

Braneck, Mira: »Unbearable Reading: An Interview with Anuk Arudpragasam«. In: The Paris Review, 15. Juni 2021, https://www.theparisreview.org/blog/2021/07/15/unbearable-reading-an-interview-with-anuk-arudpragasam/  (eingesehen 23. März 2022).

Weinzierl, Ulrich: »Bernhard als Erzieher. Thomas Bernhards Auslöschung«. In: Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main: Fischer 1991. S. 186-196.