Imre Kertész

Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde als Jugendlicher in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald sowie das Außenlager Wille in Tröglitz-Rehmsdorf deportiert, von wo er nach seiner Befreiung 1945 nach Budapest zurückkehrte. Den zentralen Hintergrund seines Schaffens bilden der Holocaust und seine Konsequenzen, daneben beschäftigte ihn auch der kommunistische Totalitarismus. Kertész verstand die eigene Existenz als permanentes Exil (vgl. Dowden 2020: 92), im steten Konflikt mit der ungarischen Politik lebte er viele Jahre in Berlin (und übersetzte auch aus dem Deutschen). Im Jahr 2002 erhielt er den Nobelpreis für Literatur für Sorstalanság (1975; dt. Roman eines Schicksallosen, 1996 [1991]), »ein schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet«, so das Komitee in seiner Begründung. Zwanzig Jahre später erschien posthum das Arbeitstagebuch Heimweh nach dem Tod (2022), mit Einblicken in die Entstehungsgeschichte des Romans eines Schicksalslosen und in die Suche nach der richtigen Sprache. 2016 starb Kertész im Alter von 86 Jahren.

Aber – ja – wir müssen wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wie der Wissenschaftler bei Thomas Bernhard sagt, denn das Scheitern, allein das Scheitern, ist das einzige erfüllbare Erlebnis geblieben, sage ich, und so strebe auch ich nach dem Scheitern, wenn ich schon streben muß, und ich muß sehr wohl streben, denn ich lebe und schreibe, und beides ist streben, das Leben ein eher blindes, das Schreiben ein sehendes Streben, und so ist es ein anderes Streben als das Leben, es strebt vielleicht danach, das zu sehen, wonach das Leben strebt, und daher, da es nichts anderes tun kann, spricht es dem Leben das Leben nach, es wiederholt das Leben, als sei es, das Schreiben, auch Leben, obwohl es das nicht ist, auf ganz grundlegende, unvergleichbare, mehr noch, unvergleichliche Weise nicht ist, somit ist das Scheitern, wenn wir zu schreiben beginnen und über das Leben zu schreiben beginnen, von vornherein gewährleistet. 

Imre Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, übers. von György Buda und Kristin Schwamm, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 61f.*

Kaddis a meg nem született gyermekért (1990; dt. Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 1992) ist ein prosaisches Trauergebet für ein Kind, das nie geboren wurde. Der Schriftsteller und Übersetzer B. verneint, als ihn der Philosoph Oblath fragt, ob er Kinder habe. In einem tiefgehenden Monolog erklärt er seine Kinderlosigkeit zur für ihn als Holocaustüberlebenden einzigen Option. Zu schrecklich sei, was einem auf dieser Welt widerfahren könne, zu viel Schlechtes berge die menschliche Natur. Immer detailreicher berichtet B. dem Philosophen von seiner nicht zuletzt aufgrund der Kinderlosigkeit gescheiterten Ehe, seiner erfolglosen Karriere und seiner Zeit im Konzentrationslager Auschwitz. Nicht im Bösen, bei den Diktatoren und Verbrechern, sondern im Guten, bei den Heiligen und Helden verortet er das wahre menschliche Scheitern.

In Kaddisch für ein nicht geborenes Kind verleiht Kertész der von Thomas Bernhard inspirierten Figur B. einen zynischen und dennoch charismatischen Pessimismus, der die Grundstimmung des Textes prägt. Der Ich-Erzähler zieht aus seiner zu einem Zettelhaufen angewachsenen Zitatensammlung entsprechende Sätze:

Sich der Kindheit als Todesursache ausliefern, lese ich, der Begriff Herrschaft bedeutet in jedem Fall Schreckensherrschaft, und ich lese meine eigene, dieser Bemerkung (von Thomas Bernhard) angefügte Bemerkung: »und Schreckensherrschaft bedeutet in jedem Fall Vaterherrschaft«.

Kertész 2002: S. 123.**

 

Anders als hier enthält die eingangs zitierte Bernhard-Passage im ungarischen Original weniger eindeutig nur den Nachnamen Bernhards. Sie bezieht sich auf die Erzählung Ja (1978), die Kertész besonders imponiert hat (vgl. Dowden 2020: 93f.):

Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrundegehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind.

Thomas Bernhard: Ja, in: Erzählungen III [= Werke 13], hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 35.

 

Dass Kertész das Positive aus einer negativen Weltanschauung herausfiltern kann, bildet einen von mehreren Berührungspunkten zwischen den Autoren, daneben auch ähnliche tonale Präferenzen und ein unbeschönigendes Schreiben gegen Geschichtsvergessenheit und -leugnung. Beide, so Maria Kajtár, widersetzen sich dem sie umgebenden Nationalstolz der mitteleuropäischen Gegenwart und beziehen sich stattdessen auf die blinden Flecken der Vergangenheit (vgl. Kajtár 2017: 459). Kertész’ Angriffe in Kaddisch für ein nicht geborenes Kind reichen von den als medioker verunglimpften Intellektuellen Ungarns (vgl. Kertész 2002: 19) bis zur gesamten Menschheit. Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist die sprachskeptische Haltung, die sich teils aufrichtig verzweifelt, teils selbstironisch, durch das gesamte Werk zieht. Zugrunde liegt die Erschütterung darüber, dass »die Sprache, so wie sie ist, quasi aus einer vor unserer Zeitrechnung liegenden Kulturepoche überkommen, einfach untauglich zur Darstellung der wirklichen Prozesse und einstmals einhelliger Vorstellungen ist«, wie Kertész in seiner Nobelvorlesung erklärt (Kertész 2002: n. p.). Mit einer – bei Bernhards Figuren in dieser Deutlichkeiten eher unüblichen – Verletzlichkeit, fast Zärtlichkeit, lässt Kertész die Figur B. über die banalsten Dinge sprechen, andererseits große philosophische Belange, wie die unerbittliche Zerstörung und Auflösung von allen und allem, die Todeskrankheit als bernhardschen Motivkomplex, erörtern. Wenn B. zu einem seiner melancholischen Exkurse ansetzt, offenbart sich gelegentlich, wie die Übersetzung aus dem Ungarischen nicht den Bernhard-Weg nimmt (vgl. Adamik 2017; Győrffy 1995), wenn es darum geht, sprachliche Besonderheiten ins Deutsche – man könnte sagen – zurückzuübersetzen: Wortwiederholungen werden weggekürzt und lange Schachtelsätze – die sich bei Kertész durchaus über zwei Seiten erstrecken können – in mehrere kleine zerlegt.

In welchem Maß Kertész wie Bernhard klingen kann, veranschaulicht vor allem die Erzählung »Die englische Flagge« (1999), die klarstellt, »daß jenseits des Anekdotischen jede Geschichte und jedermanns Geschichte vom wesentlichen her gesehen gleichartig sei, und daß diese im wesentlichen gleichartigen Geschichten im wesentlichen tatsächlich alle Schreckensgeschichten seien, daß im wesentlichen alles Geschehen tatsächlich schrecklich sei und daß, im wesentlichen, auch die Geschichte schon seit langem nichts als höchstens eine Schreckensgeschichte sei.« (Kertész 2016: 55)

 

 

Mit Felszámolás (2003; dt. Liquidation) hat Kertész einen Roman geschrieben, der dem experimentellen Stil der Werke Thomas Bernhards aus den sechziger und siebziger Jahren weniger ähnelt als Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Kertész orientiert sich in Liquidation am späteren, erzählerisch gemäßigteren Bernhard, mit vor allem thematischen und motivischen Verknüpfungen rund um die in Bernhards Prosa verbreitete Aufarbeitung schriftlicher Nachlässe. In Liquidation kämpft sich der Verlagslektor Keserű durch den Nachlass des verstorbenen Schriftstellers Bé, aus dessen Perspektive er bereits Kaddisch geschrieben hat. Im Nachlass seines Freundes findet Keserű das Theaterstück ›Liquidation‹ und erwähnt mit Blick auf diesen an Bernhard gemahnenden Titel: »Wie es scheint, hat er eine Zeitlang erwogen, das hinterlassene Theaterstück in freien Versen zu schreiben, in der Art von Peter Weiss oder eher noch Thomas Bernhards, dessen berufener Übersetzer er war.« (Kertész 2005: 65) Keserű begibt sich auf die Suche nach Bés verschwundenem Lebensroman und arbeitet im Zuge dessen sowohl Bés als auch seine eigene Vergangenheit auf. Bé hat Auschwitz überlebt und gegen das Vergessen des Holocaust geschrieben. Keserű erinnert sich an seine Zeit als Intellektueller im Realsozialismus und an das damit verbundene Gefühl von Überflüssigkeit und Ablehnung, »in einer Stadt, die allmählich keiner Literatur mehr bedarf« (Kertész 2005: 56). Durch die Beschäftigung mit dem hinterbliebenen Theaterstück und weiteren Schriften, mit Bés gescheiterter Ehe und schließlich seinem Selbstmord, hofft Keserű, seinen geliebten Freund am Leben zu erhalten. Das Erinnern und das Überleben waren für Bé die wichtigsten Formen politischen Widerstandes, Keserű handelt in diesem Geiste weiter (vgl. Forster 2015). Die Erinnerungsarbeit, die im Mittelpunkt steht, lässt an den Antiautobiographie-Entwurf, mit dem die Hauptfigur von Auslöschung. Ein Zerfall (1986) seine Familiengeschichte neu schreiben will, denken. Die Parallelen mit Auslöschung beginnen schon mit dem Bild des am Fenster stehenden Helden, Franz-Josef Murau, am Anfang der Handlung. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, verklammert mit dem Nachklang totalitärer Regime des 20. Jahrhundert, bestimmen beide Werke. Selbst der bereits in Kaddisch als Gesprächspartner entworfene Doktor Obláth erinnert hier streckenweise an Gambetti, Muraus Gegenüber in Auslöschung. Die geistigen Gemeinschaften, die in den Handlungen miteinander und mit Glanzlichtern der Literatur- und Philosophiegeschichte eingegangen werden, stehen stark im Gegensatz zur eher bildungsfernen Herkunft der Hauptfiguren:

In meiner Familie gab es keine Literatur. Überhaupt keine Kunst. Ich bin unter nüchternen Menschen aufgewachsen, die durch Kriege und diverse Diktaturen geformt worden waren – aber zu was eigentlich? Vielleicht formuliere ich es genauer, wenn ich sage: Ich bin unter nüchternen Menschen aufgewachsen, deren Seele, Charakter und Persönlichkeit durch Kriege und diverse Diktaturen liquidiert worden waren.

Imre Kertész: Liquidation, übers. von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüber, Reinbek: Rowohlt 2005, S. 42.***

 

Im Familienanwesen der Muraus ist hingegen Literatur im Übermaß vorhanden, allerdings lediglich in der Funktion als Staubfänger:

Sie hatten zwar Tausende von Büchern in den Bibliotheken in Wolfsegg, das fünf Bibliotheken beherbergt, und diese Bücher in absurder Regelmäßigkeit drei- oder viermal jährlich abgestaubt, aber sie hatten diese Bücher aus diesen ihren Bibliotheken niemals gelesen. Sie hielten die Bibliotheken immer auf Hochglanz, damit sie sie, ohne sich schämen zu müssen, ihren Besuchern vorzeigen und vor diesen Besuchern prahlen und ihre gedruckten Kostbarkeiten herzeigen konnten, aber sie machten von allen diesen Tausenden, ja Zehntausenden von Kostbarkeiten persönlich niemals den Gebrauch, der selbstverständlich gewesen wäre.

Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall [= Werke 9], hg. von Hans Höller, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 19.

 

Ein echter Dialog ergibt sich zwischen Murau und Gambetti nicht, ersterer spricht größtenteils zu sich, und in Liquidation verschwimmen die Grenzen zusehends – bald scheint Bé aus Keserű zu sprechen. Mit dieser Suspension des Erzählers, wie sie auch bei Thomas Bernhard auftritt (vgl. Schönthaler 2014: 83), gewinnt Imre Kertész als Autor, als holocaustüberlebender Berichterstatter, Distanz vom fiktionalen Geschehen. Nicht ohne Grund stellt er dem Werk ein Zitat von Samuel Beckett voran, das das Geschilderte als prinzipiell erfunden ausgibt: »Dann ging ich ins Haus zurück und schrieb: Mitternacht. Der Regen schlägt gegen die Scheiben. Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.«

Zitate im Original

* »De – igen – legalább a kudarcra törekedni kell, mint Bernhard tudósa mondja, mert a kudarc, egyedül a kudarc maradt az egyetlen beteljesíthető élmény, mondom én, és így én is erre törekszem, ha már törekednem kell, márpedig kell, mert élek és írok, és mindkettő törekvés, az élet inkább vak, az írás inkább látó törekvés, és így másféle törekvés persze, mint az élet, talán azt törekszik látni, hogy mire törkedik az élet, és ezért, mert nem tehet mást, utánamondja az életnek az életet, ismételgeti az életet, mintha ő, az írás is élet lenne, holott nem az, egészen alapvetően, össze nem mérhetően, sőt össze nem hasonlíthatóan nem az, és így a kudarc, ha írni kezdünk, és az életről kezdünk írni, eleve biztosított.« (Kertész 1990: 72)

** »Magunkat a gyermekkornak, mint haláloknak kiszolgáltatni, olvasom. Gyakran eltűnődtem már gyermekkoromban, olvasom, az uralom fogalma minden esetben rémuralmat jelent, és olvasom az ehhez (a Thomas Bernhardéhoz) fűzött saját észrevételemet: ›és a rémuralom minden esetben apauralmat jelent‹.« (Kertész 1990: 147)

*** »A családomban nem volt irodalom. Semmi művészet, Józan emberek közt nőttem fel, akiket háborúk és különféle diktatúrák formáltak – mivé is? Talán pontosabban fogalmaznék, ha így mondanám: józan emberek közt nőttem fel, akiknek lelkét, jellemét és egyéniségét háborúk és különféle diktatúrák számolták fel.« (Kertész 2003: 45)

Literaturverzeichnis

Adamik, Lajos: »Der unbeirrbare Drang, vom längsten Satz bis zum kürzesten möglichst kunstvoll zu scheitern.« In: »Ein übersetztes Buch ist wie eine Leiche.« Übersetzer antworten Thomas Bernhard; Erstes Internationales Bernhard-Übersetzer-Symposium Wien, 28. März 2017. Mattighofen: Korrektur Verlag 2017. S. 33-43.

Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall [= Werke 9], hg. von Hans Höller. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.

Bernhard, Thomas: Ja. In: Erzählungen III [= Werke 13], hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

Dowden, Stephen: »Radical Style: Bernhard, Sontag, Kertész«. In: Thomas Bernhard’s Afterlives, hg. von Stephen Dowden, Gregor Thuswaldner und Olaf Berwald. London, New York: Bloomsbury [= New Directions in German Studies; Vol. 30] 2020. S. 81-95.

Forster, Edgar: »Unbedingt leben. Liquidation von Imre Kertész.« In: Grenzgänge. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane, hg. von Hans-Christoph Koller und Markus Rieger-Ladich. Bielefeld: transcript 2015. S. 109-122.

Győrffy, Miklös: »Partitur und Instrument. Thomas Bernhard ungarisch spielen« In: Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa, hg. von Wolfram Bayer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995. S. 91-99. 

Kajtár, Maria: »Eine trotz allem vertraute Welt. Zur Rezeption in Ungarn«. In: Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa, hg. von Wolfram Bayer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995. S. 451-462.

Kertész, Imre: Die englische Flagge. Erzählungen, übers. von György Buda und Kristin Schwamm. Reinbek: Rowohl 2016 [1999].

Kertész, Imre: Felszámolás. Budapest: Magvető 2003.

Kertész, Imre: Kaddis a meg nem született gyermekért. Budapest: Magvető Könyvkiadó 1990.

Kertész, Imre: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, übers. von György Buda und Kristin Schwamm. Reinbek: Rowohlt 2002.

Kertész, Imre: Liquidation, übers. von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüber. Reinbek: Rowohlt 2005.

Kertész, Imre: »Nobelvorlesung«, übers. von Kristin Schwamm. In: The Nobel Prize in Literature 2002, www.nobelprize.org/prizes/literature/2002/kertesz/25352-imre-kertesz-nobelvorlesung/ (eingesehen 25. Juni 2022).

Schönthaler, Philipp: Negative Poetik. Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész. Bielefeld: transcript 2011.