Lydia Davis

Lydia Davis (geb. 1947), US-amerikanische Schriftstellerin, Übersetzerin und Essayistin, ist besonders für ihre Kurz- und Kürzestgeschichten bekannt. Neben dem Roman The End of the Story (1995; dt. Das Ende der Geschichte, 2009) umfasst ihr Werk zahlreiche Erzählbände, darunter Break It Down (1986; dt. Es ist, wie es ist, 2020), Almost No Memory (1997, dt. Fast keine Erinnerung, 2008), Varieties of Disturbance (2007; Formen der Verstörung, 2011) und Can’t and Won’t (2014; Kanns nicht und wills nicht, 2014). 2013 wurde sie mit dem Man Booker International Prize für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Hochgelobt sind auch ihre Übersetzungen ins Englische, unter anderem von Marcel Proust, Gustave Flaubert, Peter Altenberg und Robert Walser. Zuletzt hat Davis vermehrt Sammlungen mit Essays zu Literatur-, Kunst- und Übersetzungsthemen veröffentlicht. Davis lehrte Creative Writing an der State University of New York in Albany. Mit ihrem Mann, dem Künstler Alan Cote, lebt sie in Rensselaer County, New York.

Die humorvoll-überraschenden Kurzgeschichten, die Lydia Davis in ihrem Band Can’t and Won’t vereint, nehmen viele Formen an: überspitzte Beschwerdebriefe, Aphorismen, Träume, an Prosagedichte grenzenden Miniaturerzählungen und Listen. Manche ihrer Miniaturerzählungen sind nur wenige Wörter oder Zeilen lang, der Großteil nicht mehr als zwei oder drei Seiten. Präzise fängt Davis in ihren Geschichten Alltagsmomente ein, hinterfragt Konventionen, unterwandert Erwartungen und bricht vermeintliche Regeln. Die Geschichten in Can’t and Won’t zeugen von Davis' Auge fürs Detail, für das Besondere im Alltäglichen, die Intimität hinter der Oberfläche, oft ironisch und von einem ungewöhnlichen Blickwinkel aus betrachtet.

Während eines Volksschuljahres bei den Ursulinen in Graz (vgl. Winkler 2018: n. p.) lernte Davis als Siebenjährige Deutsch, eine Erfahrung, die nach eigenen Angaben zu einem extremen Sprachbewusstsein führte (»hyperconscious of language«, Prose 1997: n. p.). Das um sie herum Gesprochene hat sie als Rhythmus wahrgenommen, noch bevor sie es verstehen konnte, rückblickend die beste Voraussetzung, um an Thomas Bernhards Schreibstil Gefallen zu finden.

Ihre Bernhard-Lektüre blieb jedenfalls nicht ohne Effekt, wie sie 2015 in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung erklärte:

Manchmal scheint mir, dass ich formale Ansätze anderer Autoren absorbiere, etwa von Thomas Bernhard. Er hat auch meinen Roman ›Das Ende der Geschichte‹ beeinflusst, obwohl das nicht offensichtlich wird; er war ein Vorbild, an dem ich mich orientierte. Solche Vorbilder können neue Türen für mich öffnen, das geniesse ich.

Lydia Davis, zit. n. Angela Schader: »Einen Fingerbreit neben dem Gewöhnlichen«, in: Neue Zürcher Zeitung, 22. Mai 2015, n. p.

 

Als Meisterin der kurzen Form gesteht Davis doch ihre Neigung »zu der sehr langen, abschweifenden, atemlosen Form, dem Monolog, der versucht, jede Permutation eines Gedankens zu umfassen, solche Sätze und Werke wie die von Thomas Bernhard oder W. G. Sebald« (»to the very long, digressive, breathless form, the monologue that tries to embrace every permutation of an idea, such sentences and works as those by Thomas Bernhard or W. G. Sebald«, Davis/Blackhurst 2021: n. p.). Besonders in den längeren Prosatexten in Can’t und Won’t zeichnen sich die Figuren durch walzenartige Denkbewegungen, repetitives Fokussieren auf ein Thema und Reflexionskreisel aus. Vor allem die Geschichte »Letter to a Hotel Manager« erweist sich als thematisch und stilistisch an Bernhard angelehnt: Während die Verfasserin des titelgebenden Briefs über einen scheinbaren Schreibfehler auf der Speisekarte des Hotelrestaurants nachdenkt, erwähnt sie, dass sie zusammen mit ihrem älteren Bruder in der Stadt sei, um »mehrere geschäftliche Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Nachlass unserer Mutter« (»several pieces of business in connection with our mother’s estate« (Davis 2014, n. p., Übers. L. A. P.) zu regeln. Über das für Bernhard typische Nachlassmotiv und die Geschwister-Konstellation hinaus finden sich in »Letter to a Hotel Manager« für Davis eher untypische, für Bernhard allerdings umso bezeichnendere Schachtelsätze:

Als ich aber am nächsten Abend aus meinem Zimmer in die Lobby herunterkam, in der Absicht, zum zweiten Mal in Ihrem Restaurant zu speisen, diesmal mit meinem älteren Bruder, und während ich in der Lobby auf ihn wartete, was ich in der Regel gerne tue, wenn der Rahmen ansprechend ist und ich mich auf ein gutes Abendessen freue, obwohl ich bei dieser Gelegenheit tatsächlich sehr früh dran war und mein Bruder eher spät, so dass ich lange warten musste und mir die Frage stellte, ob meinem Bruder etwas zugestoßen sei, las ich Informationsmaterial, das mir von dem freundlichen Herren in der Rezeption zur Verfügung gestellt worden war, dessen Betragen, wie das des übrigen Personals, vielleicht mit Ausnahme des Restaurantmanagers, so natürlich und unprätentiös war, dass es wesentlich zur Aufwertung meines Aufenthalts in [I]hrem Hotel beitrug, nachdem ich ihn gefragt hatte, ob er einen Bericht über die Geschichte Ihres Hotels habe, wo sich doch so viele interessante und berühmte Persönlichkeiten hier aufgehalten oder hier gearbeitet oder gegessen und getrunken haben, einschließlich meiner Ururgroßmuter, obwohl diese nicht berühmt war, und in diesem Bericht, der, wie ich vermute, vom Hotel verfasst worden war, las ich, dass Ihr Restaurant tatsächlich für sich in Anspruch nimmt, das Wort scrod erfunden zu haben, um den Fang des Tages zu bezeichnen, vermutlich im Gegensatz zu cod (Kabeljau), für den diese Stadt gleichfalls berühmt ist.

Lydia Davis: »Brief an einen Hotelmanager«. In: Kanns nicht und wills nicht, übers. von Klaus Hoffer, Graz, Wien: Droschl 2014, S. 242f.*

 

Eine obsessive Innerlichkeit (»obsessive interiority«, Wood 2009: n. p.) ist sowohl Davis’ als auch Bernhards Figuren zu eigen, doch neigen Bernhards männliche Hauptfiguren meist dazu, ihre Umwelt zu unterwerfen: »Der sogenannte Geistesmensch geht ja immer wieder über einen Menschen, den er dafür getötet und also zur Leiche gemacht hat für seinen Geisteszweck« (Bernhard 2006: 25). Davis’ weibliche Hauptfiguren hingegen haben eine Tendenz, sich für Rücksichtlosigkeiten zu entschuldigen. So fallen die Urteile bei Bernhard deutlich apodiktischer aus als bei Davis, wie sie mit Blick auf die Geschichte »The Letter to the Foundation« berichtet: »[M]eine Erzählerin ist sich ihrer selbst viel weniger sicher als Bernhards Figuren, die so rechthaberisch sind.« (»[M]y narrator is much less sure of herself than Bernhard’s characters, who are so highly opinionated.«, Davis/Blackhurst 2021: n. p., Übers. L. A. P.).

Eine für Davis wundervolle Entdeckung (»a wonderful discovery«, David/Florczyk 2021: 6) war Bernhards Kurzprosasammlung Der Stimmenimitator (1978), die sie in einer Flughafen-Buchhandlung gefunden hat. Vergleicht man Davis’ Kürzestgeschichten mit den Texten aus Der Stimmenimitator (1978), erscheint ihr Stil deutlich experimenteller als die in nüchterner Zeitungssprache gehaltenen Bernhard-Texte. Doch auch hier gibt es Gemeinsamkeiten: Davis’ Geschichte »Ödön von Horváth Out Walking« (dt. Ödön von Horváth auf Wanderschaft), in der der fiktionalisierte Horváth in den Bayrischen Alpen im Rucksack eines skelettierten Wanderers eine absendebereite Postkarte mit dem Text »Habe eine wunderbare Zeit.« (»Having a wonderful time.‹«, Davis 2014, n. p.) findet, passt stilistisch und mit ihrem schwarzen Humor sehr gut zu Bernhards Miniaturen. 

Für die Häufigkeit, mit der Davis in Zusammenhang mit Bernhard gebracht wird und sich selbst mit ihm in Verbindung bringt, manifestiert sich Bernhards Einfluss eher selten direkt in ihrem Schreiben. Auf der Website des Man Booker Prizes wird die treffende Aussage James Woods zitiert, Lydia Davis lese sich wie der ungestüme österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (»like the tempestuous Austrian writer Thomas Bernhard«). Was die Seite unerwähnt lässt, ist Woods Fazit: »das tut sie und das tut sie nicht« (»she does and doesn’t«, Wood 2009: n. p.).

 

L. A. P.

Zitate im Original

* »But when I came down from my room to the lobby the following night, about to dine in your restaurant for the second time, this time with my older brother, and as I waited there in the lobby for him, which is something I generally like to do if the setting is a pleasant one and I am looking forward to a good dinner, though in fact on this occasion I was quite early and my brother was quite late, so that the wait became rather long and I began to wonder if something had happened to my brother, I was reading some literature provided to me by the friendly clerk behind the reception desk, whose manner, like that of the other staff, with the exception, perhaps, of the restaurant manager, was so natural and unaffected that my stay in your hotel was greatly enhanced by it, after I asked if he had any account of the history of your hotel, since so many interesting and famous people have stayed here or worked here or eaten or drunk here, including my own greatgreat-grandmother, though she was not famous, and in this literature presumably written by the hotel I read that your restaurant claimed, in fact, to have invented the word ›scrod‹ to describe the catch of the day, in contrast to ›cod,‹ I suppose, for which this city is also famous.« (Davis 2014: n. p.)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Beton [= Werke 5], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.

Davis, Lydia: Can’t and Won’t. Stories. New York: Farrar, Straus and Giroux 2014. 

Davis, Lydia, und Angela Schader: »Einen Fingerbreit neben dem Gewöhnlichen«. In: Neue Zürcher Zeitung, 22. Mai 2015, https://www.nzz.ch/feuilleton/einen-fingerbreit-neben-dem-gewoehnlichen-ld.901108 (eingesehen 7. Juni 2022). 

Davis, Lydia, und Piotr Florczyk: »›I Take Great Pleasure in Writing‹. Piotr Florczyk in conversation with Lydia Davis.« In: Explorations: A Journal of Language and Literature 9 (2021). S. 2-7. 

Davis, Lydia, und Alice Blackhurst: »Interview with Lydia Davis«. In: The White Review 30 (Dezember 2021), https://www.thewhitereview.org/feature/interview-with-lydia-davis/ (eingesehen 7. Juni 2022). 

Davis, Lydia: Kanns nicht und wills nicht. Stories, übers. von Klaus Hoffer. Graz, Wien: Droschl 2014.

Prose, Francine: »Lydia Davis«. In: BOMB Magazine 60, 1. Juli 1997, https://bombmagazine.org/articles/lydia-davis/ (eingesehen 7. Juni 2022). 

Winkler, Willi: »Fass-Nacht«. In: Süddeutsche Zeitung, 14. Mai 2018, https://www.sueddeutsche.de/kultur/amerikanische-literatur-fass-nacht-1.3978868 (eingesehen 7. Juni 2022).

Wood, James: »Songs of Myself«. In: The New Yorker, 19. Oktober 2009, https://www.newyorker.com/magazine/2009/10/19/songs-of-myself (eingesehen 7. Juni 2022).