Robert Schindel

(Geb. 1944 in Bad Hall)

Als hätte Raimund Muthesius etwas gewittert, rief er nach längerer Pause Dietger Schönn im Büro an. Mit monotoner und gelangweilter Stimme teilte er »seinem Direktor« mit, es sei nun fertiggestellt, das halb bestellte, halb ihm aus tiefster Seele entkrochene Theaterstück. Ein widerliches Zeug über dieses widerliche Land. Es käme zum sogenannten Bedenkjahr zurecht, übrigens eine lächerliche Bezeichnung für die Hirnarbeit von Hohlköpfen, aus denen sich die alpenländische Politkaste seit je rekrutierte. Seit ihm ein Unterrichtsminister habe ausrichten lassen, er, Muthesius, gehöre zum Psychiater und nicht zum Schönn, seine Texte erleichterten die Psychiatrisierung seiner Person, auf der Bühne hätten sie nichts verloren, seither glückte ihm die Überzeichnung der österreichischen Seele auf besondere Weise. In einen Prozess mit einem ehemaligen Freund verstrickt, der sogar versucht hatte, einen seiner Romane beschlagnahmen zu lassen, zeitweilig alleingelassen von seiner Haushälterin Martha, weil die sich erdreistet hatte, Knoten in der Brust zu ertasten und sich nunmehr in Vöcklabruck einer Chemotherapie unterzog, fetzte er das Stück auf dem Küchentisch unter dem Serpentinkruzifix herunter. Nachdem er es in zwei Vormittagen hingeworfen hatte, ließ er es in der Kommode, zweite Schublade von oben, ablagern. Nach zweiundsiebzig Stunden begann er bereits zu befürchten, das Zeug hebe an zu schimmeln. Es kam ihm vor, dass die Underwoodbuchstaben als Kakerlaken in seinen letzten Traum hereingekrabbelt waren. Er zog das Manuskript aus der Schublade heraus, rollte es zusammen, steckte es sich hinten in die Hose, zog den Alpenjanker drüber und trug es den Attersee entlang. Im Café Central las er es mit aufgeworfenen Lippen durch, verhohlen vom Wirt und einigen Gästen beobachtet. […]

»Wie aus einem Guss«, begrüßte er Dietger Schönn, umarmte ihn und klopfte ihm beide Schultern ab, als hätte dieser soeben das Stück beendet. Ohne den Titel des Stückes zu nennen, las er es ihm im Erkerzimmer vor, während Schönn durch ein Fenster zusah, wie die Abenddämmerung allmählich den See aufaß.

»Kolossal«, sagte Schönn. »Kolomassiv. Backpfeifen in einem fort. Maulschellen der Aufklärung.«

»Kam wie aus einem Guss«, wiederholte Muthesius. »Aus einem Alb.« 

»Friedenszeit«, sagte Schönn langsam. »Guter Titel.«

»Das Stück heißt aber nicht so. Im Gegenteil: Vom Balkon.«

»Vom Balkon?« Schönn blickte ratlos. 

»Wusstest du nicht, dass die Hofburg einen Balkon hat, von welchem der GRÖFAZ zur Menschenmenge auf den Heldenplatz hinunterbellte?«

»Ach nee. Ach ja? Der Balkon spielt aber gar nicht mit.«

»Aber der Platz spielt mit, in den er hineinspringt.«

 

Robert Schindel: Der Kalte, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 478-480.