Birgit Vanderbeke

(Geb. 1956 in Dahme/Mark, gest. 2021 in Languedoc-Roussillon)

Mein Vater hat diese Konzerte auch deswegen nicht gemocht, weil er gewußt hat, daß er eigentlich kein höherer Angestellter sein wollte, sondern ein höchster, was er schon gleich beschlossen hatte, als er in seiner Firma die Stelle bekam, und er hat alles gemacht, wie wenn er ein höherer Angestellter wäre, in Wirklichkeit hat er schon gleich von Anfang an gewußt, daß er einmal ein höchster Angestellter sein wird, und er hat dieses Ziel nicht langsam und geduldig, sondern äußerst zügig, ja, in raschestem Tempo verfolgt, er hat die Abonnementkonzerte nur nebenbei absolviert, und meine Mutter hat an dem Abend schon geahnt, daß es mit diesen Abonnements vorbei sein würde, sobald mein Vater befördert wäre, ich gönne es ihm von Herzen, hat sie gesagt, aber es hat keine im Ernst geglaubt, daß er dann jemals wieder ein Abonnementkonzert besuchen würde, weil diese Stufe der höheren Angestellten dann überwunden wäre, und meine Mutter hat gesagt, daß nach den Abonnementkonzerten die Stufe der trockenen Martinis, der Drinks, hat meine Mutter gesagt, beginnen würde, so sähe sie es auf sich zukommen, meine Mutter hat an diesem Abend aber, weil sie zwar schwankend, aber zum ersten Mal in ihrem Leben doch immerhin auch aufsässig war, erkennen lassen, daß sie die Abonnementkonzerte der Stufe der Drinks mit Entschiedenheit vorziehen würde; ich habe ja alles mitgemacht, hat sie gesagt, womit sie die Käufe von immer teureren Autos, die Urlaubsreisen in immer undörflichere Feriensiedlungen statt an wiesen- und also blumenreiche österreichische Bergseen gemeint hat, und mein Vater hatte auch tatsächlich kurz vor der Dienstreise, von der es als ausgemacht galt, daß sie der letzte Meilenstein auf dem Weg zur Beförderung sein würde, angekündigt, daß er das Abonnement zu kündigen beabsichtigte, statt dessen habe er vor, im Sommer einmal nach Bayreuth zu fahren, er habe Wagner sein Lebtag nicht richtig geschätzt, was ein Fehler gewesen sei, Wagner nicht richtig zu schätzen, er habe vor, diesen Fehler nun endlich zu korrigieren, und meine Mutter hat Bayreuth mit den trockenen Drinks und den immer teureren Autos in eine Verbindung gebracht, weil sie sich weder aus Wagner noch aus den trockenen Drinks nur das allergeringste gemacht hat, an diesem Abend hat sie gesagt, ich habe ja alles mitgemacht, aber irgendwo hört es auf, womit sie gemeint hat, daß es bei Wagner aufhört und bei den trockenen Drinks, in Wirklichkeit hat es schon bei der Spätlese aufgehört, haben wir dann gesagt, aber ihr sind die Konzertabonnements doch sehr lieb gewesen, weil sie das waren, was meine Mutter die klassische Harmonie genannt hat, daran hat meine Mutter geglaubt.

Birgit Vanderbeke: Das Muschelessen, Berlin: Rotbuch 1990, S. 94ff.