Thomas Meinecke

(Geb. 1955 in Hamburg)

Eine Reise durch Amerika, so Wolfgang Schmid, sei immer auch eine Reise durch die tiefsten Depressionen, verlassen wir das. Flugzeug auf dem Kennedy-Flughafen, befinden wir uns schon mitten im Elend, sagt Wolfgang Schmid, stehen wir zwei Wochen später auf der Golden-Gate-Brücke, wollen wir uns am liebsten in die Tiefe stürzen, der Karneval in New Orleans ist nichts als eine endlose Tunnelfahrt, die Maisfelder in Kansas ein Grauen, Disneyland eine herbe Enttäuschung, der Grand Canyon ein Riesenschwindel, und von den weltberühmten Niagara-Fällen hatte der Amerikanistikstudent Wolfgang Schmid den Eindruck eines gigantischen Wasserrohrbruchs: Nachts träumte er, dieser Wasserrohrbruch möge doch bitte die ganzen USA einfach wegspülen. Allein die auch in Amerika so zahlreich verstreuten Wienerwald-Filialen haben unseren Bekannten Wolfgang Schmid immer wieder, wie man so sagt, etwas aufgemöbelt. Wolfgang Schmid, welcher nach eigenen Angaben noch vor zwei Jahren ein reiner McDonald’s-Geher war, hat sich spätestens auf seiner diesjährigen Amerikareise zum reinen Wienerwald-Geher entwickelt. Gleich nach seiner Ankunft in den USA habe er sein Amerikabild, welches naturgemäß ein reines McDonald’s-Amerikabild gewesen sei, deshalb sei er ja schließlich hingereist, vollkommen umstürzen und durch ein Wienerwald-Amerikabild ersetzen müssen. Wenngleich er früher immer gedacht hatte, Amerika sei ein McDonald’s-Amerika, so habe er gleich in New York City bereits feststellen müssen, daß Amerika ein reines Wienerwald-Amerika ist. Ohne den Wienerwald wäre ich in Amerika garantiert unter die Räder gekommen, so Wolfgang Schmid.

Thomas Meinecke: »Unser Wienerwald«, in: Mit der Kirche ums Dorf. Kurzgeschichten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 44-46, hier S. 44f.