Youssef Rakha
Youssef Rakha
Youssef Rakha (geb. 1976) ist ein ägyptischer Kulturjournalist, Fotograf und Autor, der sowohl in arabischer als auch in englischer Sprache schreibt. Seine Beiträge wurden in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, darunter The New York Times, Daily Telegraph, Lettre International sowie Al-Ahram Weekly mit Sitz in seinem Wohnort Kairo. Die Stadt steht auch im Fokus seiner Fotografien, die Momente des urbanen Lebens einfangen. Mit The Crocodiles und The Book of the Sultan’s Seal werden 2014 erstmals zwei seiner Romane auf Englisch verlegt. Sein Essay Arab Porn über Amateurpornografie nach dem Arabischen Frühling erscheint 2017 als erste deutsche Übersetzung.
Ich frage mich, sage ich, ob Gewalt und Qual ihres Verliebtseins – das niemand von uns damals verstand, nicht einmal sie selbst; das für mich mittlerweile einen mythischen Schimmer angenommen hat – ich frage mich, ob die Qual und körperliche Gewalt, die ihr Verliebtsein beherrschten, in Verbindung zu etwas Übernatürlichem standen, von dem ich auch weiß, dass es neben Gedichten, die niemand las, den Auftakt zu einer Revolution bildete, die sich innerhalb weniger Monate als Echo eines Schreis in die Leere offenbaren würde.
Youssef Rakha: التماسيح, Beirut: Dar Al-Saqi 2013, S. 84 (Übers. H. J., V. E. & C. B.).*
›The Crocodiles‹ ist der Name einer geheimen Gruppe junger Dichter:innen im Kairo der späten 1990er Jahre. Vor dem Hintergrund der Revolution 2011 gibt einer der Mitbegründer memoirenhaft Einblicke in das Leben der Gruppenmitglieder zwischen 1997 und 2001. Als Vorbilder dienen ihnen die Beat Poets, allen voran Allen Ginsberg, dessen Gedicht »The Lion for Real« ein Mitglied der Gruppe immer wieder neu übersetzt. In nicht chronologischer Reihenfolge zeigen 405 kurze, nummerierte Paragraphen Szenen von Liebe, Sex, Rausch und Tod. Als Schauplatz dient ein Kairo, das den Protagonist:innen nicht genügt, der Tahrir-Platz vor der Revolution.
Wenn auch auf den ersten Blick thematisch weit entfernt, weist Youssef Rakhas Roman The Crocodiles doch einige Parallelen zu Thomas Bernhards Werk auf. Die Ähnlichkeit beginnt bei der Erzählerfigur, die – wie beispielsweise der Lebensversicherungsvertreter in Bernhards Das Kalkwerk (1970) – lange namenlos und im Hintergrund bleibt. Der Erzähler beobachtet und analysiert, soziale Bewegungen ebenso wie die Arbeit zeitgenössischer Kairoer Autor:innen oder das Intimleben seiner Bekannten – wobei er sich selbst nicht immer sicher ist, woher er diese Informationen nimmt (vgl. Rakha 2014: 83).
Der Aufbau des Romans ist alles andere als linear, springt sogar häufig von Absatz zu Absatz zwischen Ereignissen der Jahre 1997 und 2011, so dass die Leser:innen bis zu einem gewissen Grad selbst zu Analysierenden werden müssen, beim Versuch, die Szenen richtig in den Lauf der Handlung einzuordnen. Gewisse Tage, Begebenheiten und Sätze kehren dabei immer wieder, neu betrachtet und neu evaluiert – an den für Bernhard charakteristischen Wiederholungen mangelt es also nicht. Das einprägsamste dieser wiederkehrenden Motive ist die Übersetzung von Ginsbergs Gedicht »The Lion for Real«, die Nayf, ein Mitbegründer der Poesie-Gruppe ›The Crocodiles‹ über Jahre hinweg anzufertigen versucht. Nayf sieht sich gezwungen, das Gedicht immer wieder neu zu übersetzen. Seine Besessenheit führt schließlich dazu, dass ihm der titelgebende Löwe ›for Real‹ regelmäßig erscheint, wenn er allein ist. Kurz vor seinem Tod fertigt der junge Dichter eine neue Fassung seiner Übersetzung an, offen bleibt, ob es zu guter Letzt die zufriedenstellende gewesen wäre. Auch für Nayfs Obsession, für seine unerreichbar hohen Ansprüche an das eigene Schaffen, gilt das zum Scheitern verurteilte Geistesmenschen-Credo »Vollkommenheit/Vollkommenheit/verstehen Sie« (Bernhard 2005: 32). Die stattdessen vorherrschende Unvollkommenheit wird bei Rakha wortreich beschrieben, abschweifende Schachtelkonstruktionen mit kommentierenden Einschüben rufen Bernhards Schreibstil wach:
An diesem Abend entspannte sich Maher auf seinem Sessel mir gegenüber und in der ihm eigenen Art, an die ich mich, wie ich merkte, gut erinnerte, – die Worte kamen wie in einem plötzlichen Schwall, als wären sie ihm erst in diesem Augenblick eingefallen oder als könnte er sie jeden Moment zurücknehmen, und doch ohne die Ruhe seines friedfertigen, neutralen Tons zu verlieren – sagte er drei Dinge. Das erste, was Maher zu mir sagte: Seitdem er mich vor zwei Jahrzehnten kennengelernt hatte, sei mein Kopf gespalten; dass auch wenn mein Verstand funktionieren möge, mein Bewusstsein verkrüppelt sei und ein solcher Zustand garantiere, dass man allein bleiben würde.
Rakha: التماسيح, S. 91f (Übers. H. J., V. E. & C. B.).**
Gerade in Anbetracht dieses Gleichklangs überrascht es, dass Youssef Rakha die Werke Bernhards – die zwar teilweise auf Arabisch übersetzt, aber im arabischen Raum wenig rezipiert wurden – erst mit über 40 entdeckt hat (vgl. Rakha 2019: 55), und somit seinen ersten Bernhard erst gute fünf Jahre nach dem Erscheinen von The Crocodiles gelesen hat. In der »Zu Thomas Bernhard«-Ausgabe der Literaturzeitschrift SALZ beschreibt sich Rakha als Geistesverwandter, »als 1976 geborener Ägypter erkenne ich mich wieder in den rhythmischen Tiraden« (Rakha 2019: 56), denn:
In Bernhards unfassbar langen, mäandernden Sätzen und den nicht enden wollenden Blöcken indirekter Rede, die sie formen, liegt ein stetes, sirrendes Unbehagen, eine Art tiefes Misstrauen oder eine präventive Verzweiflung – ein perfekter Kontrapunkt zu dem Morast aus pseudotiefgründigen Phrasen, Idiotien und Indoktrinationsmantren, die im Zusammenhang mit bevorstehenden Katastrophen normalerweise auftauchen.
Youssef Rakha: »›Korrektur‹ lesen in Kairo«, übers. von Milena Adam, in: SALZ 2019, Nr. 176, S. 55f.
Den genannten Morast in den politischen Verhältnissen seines Landes kritisiert Rakha offen, immer wieder lässt er reale Fakten in die fiktionale Welt einfließen, insbesondere die Proteste des Arabischen Frühlings (vgl. Younas 2020). Seine eigene Rolle als Schriftsteller für Kairo vergleicht er mit der Rolle Bernhards für Österreich. Er lebe und schreibe in und über Kairo, einer Stadt, die ihn definiere und die er für nicht sonderlich lebenswert, dafür aber für umso beschreibenswerter hält (vgl. Sdrigotti 2018: n. p.). Diesen für ihn unangenehmen Zustand braucht es. Thomas Bernhard kannte das Gefühl: »Weil ich gern dort lebe, wo ich die größten Widerstände habe. Und wenn ich hier weggehe, habe ich die nicht, und drum bin ich da.« (Bernhard 2015: 92f.)
Vivien Ecker
Zitate im Original
*
أسأل نفسي إن كان للعنف والتعذيب في غرامهما، أقول–ذلك الذي لم يكن ليفهمه أحد منا وقتها ولا حتى هما، الذي يبدو لي الآن براقاً كالأساطير–إن كان للتعذيب والعنف الجسدي الذي حكم غرامهما صلة بشيء خارق أعرف أيضاً أنه، مع شِعر لم يقرأه أحد، كان مقدمة ثورة سيتضح خلال شهور من قيامها أنها لم تكن سوى صدى صيحة في الفراغ
(Rakha 2013: 84)
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ليلتها استرخى ماهر في جلسته قبالتي وبطريقته التي اكتشفتُ أنني أتذكرها جيداً–الكلام يَخرج باندفاع مفاجئ كأنه لم يخطر له إلا لحظتها أو كأنه يمكن أن يرجع فيه في أي لحظة، ومع ذلك لا يهتز هدوء نبرته المسالمة المحايدة–قال لي ثلاثة أشياء. أول شيء قاله لي ماهر: إن هناك صدعاً في رأسي منذ عرفني قبل عقدين، إن وعيي مجروح وإن كان ذهني يقظاً وإن من شأن هذه التركيبة أن تُبقي صاحبها وحيداً
(Rakha 2013: 91)
Literaturverzeichnis
Bernhard, Thomas: Die Macht der Gewohnheit. In: Dramen II [= Werke 16], hg. von Manfred Mittermayer und Jean-Marie Winkler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
Bernhard, Thomas: »›Sind Sie gern böse?‹ Interview von Peter Hamm« (1977). In: Journalistisches, Reden, Interviews [= Werke 22.2; »Reden, Interviews, Posthume Veröffentlichungen«], hg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Berlin: Suhrkamp 2015. S. 92-135.
Rakha, Youssef: التماسيح. Beirut: Dar Al-Saqi 2013.
Rakha, Youssef: The Crocodiles, übers. von Robin Moger. New York: Seven Stories Press 2014.
Rakha, Youssef: »›Korrektur‹ lesen in Kairo«, übers. von Milena Adam. In: SALZ. Zeitschrift für Literatur 2019, Nr. 176 (»Zu Thomas Bernhard«). S. 55-56.
Rakha, Youssef: »The Sauna Series - Youssef Rakha«, Interview mit Fernando Sdrigotti. In: Minor Literature[s], 6. November 2018, https://minorliteratures.com/2018/11/06/the-sauna-series-youssef-rakha/.
Younas, Abida: »Magical Realism and Metafiction in Post-Arab Spring Literature: Narratives of Discontent or Celebration?«. In: British Journal of Middle Eastern Studies 47 (2020), Nr. 4. S. 544-559.