Nicole Filion

Nicole Filion, 1946 in Ville de Québec geboren, ist eine französischsprachige Autorin von Romanen, Erzählungen und Kurzgeschichten, autofiktionalen Schriften, Theaterstücken und Hörspielen. Eine Leidenschaft der studierten Druckgrafikerin ist zudem die bildende Kunst, wovon auch die Wahl ihres Romantitels Noces villageoises (2002, dt. Dorfhochzeit) zeugt, ein Verweis auf das gleichnamige Gemälde (1615) Pieter Brueghel des Jüngeren. Filion lebt seit 1976 im dicht bewaldeten Matapédia-Tal in den Chic-Choc-Bergen östlich von Québec, wo sie aktiv das literarische und künstlerische Leben mitgestaltet. Diese Umgebung fängt Filion in ihrer Prosa ein, mit einem Blick für all das, was hinter den Fassaden verborgen liegt (vgl. Boivin 2006, Chartrand 2002).

Nicole Filions Tendenz zur humoristischen Überzeichnung zeigt sich deutlich in dem als burleske Fabel (Klappentext) bezeichneten Roman Noces villageoises, in dem sie die Sitten und Machenschaften der porträtierten Dorfbewohner:innen karikiert. Uneinigkeiten werden zu Schikanen, Streitigkeiten zu Rechtssachen. Die Erzählerin berichtet aus- und abschweifend (vgl. Rioux 2003: 27) vom Streit über die Wegerechte rund um einen Immobilienbesitz: Unzählige Akten und Dokumente werden gesammelt, das Gesetz gebogen. Die Angelegenheit artet zu einer absurden Gerichtskomödie aus, im Zuge derer Filion Thomas Bernhard aufruft (vgl. Filion 2019: 565): »Zehn Jahre lang haben wir uns nun mit dieser sinnlosen Geschichte herumgeschlagen, uns wie die Verrückten gequält, erstickt von diesen Hunderttausenden, Millionen und Milliarden von Verträgen, die die Welt zusammenflicken, wie Thomas Bernhard schreibt.« (»Dix ans maintenant que nous sommes aux prises avec cette histoire sans queue ni tête, que nous nous débattons comme de beaux diables, étouffés par ces centaines de milliers, de millions et de milliards de contrats qui rapiècent le monde, comme l’écrit Thomas Bernhard.«, Filion 2002: 74f.; Übers. J. W.)

 

Eingebunden wird hier eine kurze Passage aus Bernhards Korrektur. In diesem Roman von 1975 sichtet und ordnet der Ich-Erzähler in einer Dachkammer die Papiere seines verstorbenen Freundes Roithamer. Roithamer hat an seiner Studie »Über Altensam und über alles, das mit Altensam zusammenhängt, unter besonderer Berücksichtigung des Kegels« (Bernhard 2005: 312) so lange korrigierend gearbeitet, bis im Wesentlichen nichts mehr übrig geblieben ist. Zuletzt ›korrigiert‹ er auch sich selbst, nachdem schon seine Schwester an der Übergabe des »zu ihrem höchsten Glücke« (Bernhard 2005: 47) erbauten Wohnkegels zugrunde gegangen ist. Bernhards Ich-Erzähler paraphrasiert in der von Filion zitierten Passage Roithamers Aussagen im Hinblick auf den Verbleib seiner Liegenschaft im Ort Altensam:

Wir lehnen alles, das mit Verträgen zusammenhängt, ab, weil wir die Bürokratie ablehnen insgesamt, aber die Tatsache ist, daß die Welt nur mit Verträgen zusammengeflickt ist, das sehen wir sehr bald und in diesen Netzen von Hunderten und Tausenden und Hunderttausenden und Millionen und Milliarden von Verträgen zappeln die darin gefangenen Menschen.

Thomas Bernhard: Korrektur [= Werke 4], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 183.

 

Aus den Milliarden von Verträgen, die die Chic-Choc Berge ebenso überziehen wie Altensam, ergibt sich eine klare Notwendigkeit: »Dem Notar auf die Finger schauen und ihn nur seiner tatsächlichen Leistung, nicht nach den offiziellen gesetzmäßigen Vorschriften (und notariellen Ansichten) honorieren. Das Honorar hat ein tatsächliches Erfolgshonorar zu sein.« (Bernhard 2005: 183) Auch diesen weiteren Verlauf der Textpassage greift Filion auf, wiederum mit direkter Nennung Bernhards:

Sollten Honorare nicht ein tatsächliches Ergebnis honorieren? ›Den Notar im Auge behalten und ihm sein Honorar nur nach dem tatsächlichen Ergebnis zahlen und nicht nach den offiziellen und gesetzlichen Vorschriften (und notariellen Ansichten). Honorare müssen einen tatsächlichen Erfolg honorieren‹, schreibt Thomas Bernhard, Seite 184.

Nicole Filion: Noces villageoises, Québec: Éditions Trois-Pistoles 2002, S. 100 (Übers. J. W.).*

 

Ein besonderes Kuriosum in der »(metafiktionellen) parodistischen Beziehung zu Bernhard« (Filion 2019: 567; vgl. Filion 2017) stellt die Schulaufgabe zum Autor dar, die sich in die diversen Fußnoten, Resümees und Fragelisten in Filions Text fügt und die, mit einer elementaren Frage endend, neuerlich auf die Bernhardsche Kritik an Rechtsorganen anspielt (vgl. Filion 2019: 567): »Was ist der von Le Bâton empfohlene Gebührensatz bei Anwaltshonoraren? Was rechtfertigt diesen Satz Ihrer Ansicht nach? Fassen Sie die Meinung von Thomas Bernhard zu diesem Thema zusammen. (Wer ist Thomas Bernhard?)«. (»Quel est le taux d’intérêt préconisé par Le Bâton en ce qui concerne les honoraires professionnels des avocats? Qu’est-ce qui justifie ce taux, à votre avis? Résumez l’opinion de Thomas Bernhard à ce sujet. (Qui est Thomas Bernhard?)«, Filion 2002: 130; Übers. J. W.).

 

J. W.

Zitate im Original

* »Les honoraires ne devraient-ils pas honorer un résultat effectif? ›Avoir le notaire à l’œil et lui payer ses honoraires seulement d’après son résultat effectif et non d’après les prescriptions officielles et légales (et les opinions notariales). Les honoraires doivent honorer un succès effectif‹, écrit Thomas Bernhard, page 184.« (Filion 2002: 100)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Korrektur [= Werke 4], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.

Boivin, Pierrette: »Nicole Filion: Des mots pour faire rêver, rire et pleure«. In: Nuit blanche, Nr. 104, Oktober 2006, https://nuitblanche.com/article/2006/09/nicole-filion-des-mots-pour-faire-rever-rire-et-pleurer/ (eingesehen 5. Juni 2022).

Chartrand, Robert: »Roman québécois: Un imbroglio matapédien«. In: Le Devoir, 13. Juli 2002, https://www.ledevoir.com/opinion/chroniques/5172/roman-quebecois-un-imbroglio-matapedien (eingesehen 1. Juni 2022).

Filion, Louise-Hélène: »Klassiker Parodien interkulturell. Thomas Bernard in einem zeitgenössischen Roman aus Quebec«. In: Klassik als kulturelle Praxis: Funktional, intermedial, transkulturell, hg. von Paula Wojcik, Stefan Matuschek, Sophie Picard und Monika Wolting. Berlin: De Gruyter [spectrum Literaturwissenschaft; Bd. 62] 2019. S. 561-577.

Filion, Louise-Hélène: Les usages littéraires de Thomas Bernhard et de Peter Handke au Québec: les modalités d’une affiliation interculturelle. Montreal: Dissertation, Université du Québec und Universität des Saarlandes 2017, https://archipel.uqam.ca/10591/ (eingesehen 5. Juni 2022).

Filion, Nicole: Noces villageoises. Québec: Éditions Trois-Pistoles 2002. 

Rioux, Hélène: »Petites et grandes misères«. In: Lettres québécoises, Nr. 109, S. 27-28.