Roberto Bolaño
Roberto Bolaño
Über Roberto Bolaño (geboren 1953 in Santiago de Chile, gestorben 2003 in Barcelona) wurde schon viel gesagt, sogar, er sei die wichtigste literarische Stimme Lateinamerikas seiner Generation (vgl. Rohter 2012: n. p.), so wie auch über Thomas Bernhard zu lesen war, er sei womöglich »der beste deutsche Schriftsteller der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts«, unter anderem bei Bolaño selbst (2005: 153, »el mejor escritor alemán de la segunda mitad del siglo XX«; Bolaño 2009a: 158).
Ob richtig oder falsch, kann nicht beurteilt werden und ist auch nicht wichtig. Bolaño könnte sein Urteil jedenfalls auf immerhin zwei Meter Bernhard-Bücher (vgl. Halle 2011: n. p.) in seinem Regal stützen, neben den Bernhard-Pastiches großer Kollegen wie Horacio Castellanos Moya. Dass dem Salvadorianer Castellanos Moya sein an Bernhard angelehnter Anti-Heimat-Text El asco. Thomas Bernhard en San Salvador (1997) Morddrohungen einbrachte, ist für Bolaño im Grunde ein Qualitätsmerkmal:
Der Ekel ist natürlich nicht nur eine Abrechnung oder der Ausdruck tiefer Entmutigung eines Schriftstellers über eine moralische und politische Situation, sondern auch eine Stilübung, Castellanos Moyas Parodie bestimmter Werke Bernhards, und auch ein Roman zum Totlachen. Bedauerlicherweise haben in El Salvador nur sehr wenige Menschen Bernhard gelesen, und noch viel weniger haben ihren Sinn für Humor behalten. Mit dem Vaterland spaßt man nicht. Das ist die Devise, und zwar nicht nur in El Salvador, sondern auch in Chile und Kuba, in Peru und Mexiko und sogar in Österreich und vielen anderen Ländern oder Regionen Europas. Wäre Castellanos Moya Bosnier oder Kosovare und hätte dieses Buch dort geschrieben und veröffentlicht, hätte er sicher keine Zeit mehr gehabt, das Flugzeug zu nehmen. Hier liegt eine der vielen Tugenden dieses Buches: Es ist unerträglich für Nationalisten. Sein scharfer Humor, ähnlich einem Film von Buster Keaton oder einer Zeitbombe, bedroht die hormonelle Stabilität der Schwachköpfe, die beim Lesen das ununterdrückbare Verlangen verspüren, den Autor auf dem Marktplatz aufzuhängen. In Wahrheit kann ich mir keine größere Ehre für einen echten Schriftsteller vorstellen.
Roberto Bolaño: Entre paréntesis: Ensayos, artículos y discursos (1998-2003), Barcelona: Anagrama 2009b, S. 172 (Übers. L. A. P.).*
Wer die Heimat, diesen vielfältigen, sowohl physischen als auch metaphysischen Raum, angreift, wird sich leicht die Finger verbrennen. Während Thomas Bernhard in seiner Rolle als ewiger Nestbeschmutzer irgendwann eher als launiger Zyniker abgetan, seine Heimatkritik nicht mehr sonderlich ernst genommen wurde, wagt sich Bolaño im Jahr 2000 noch mit Bedacht an die schwierige Vergangenheit und die politischen Untiefen seiner Heimat heran. Nocturno de Chile ist einer von nur zwei Romanen Bolaños, die ihre Handlungen anstatt in Ländern wie Mexiko oder Spanien in seinem Heimatland Chile verorten.
Die Hauptfigur ist der katholische Pater Sebastián Urrutia Lacroix, der auf dem Sterbebett auf sein Leben zurückblickt, das untrennbar mit der Geschichte Chiles, vor allem der Diktatur des Pinochet-Regimes, verbunden ist. Der überdauernd feste Griff des Katholizismus und das Weiterwirken dunkler Zeiten produzieren eine Bevölkerung, über die nicht viel Gutes zu sagen ist, im Bernhard- (und also Castellanos Moya-)Ton heißt es über die allgemein vorherrschende Stumpfheit: »En este país dejado de la mano de Dios sólo unos pocos somos realmente cultos.« (Bolaño 2009c: 126), etwa: In diesem von Gott verlassenen Land sind nur wenige wirklich kultiviert, doch kann Bolaño seinen Landsleuten auch gütiger begegnen, wenn er schreibt: »El resto no sabe nada. Pero la gente es simpática y se hace querer« (Bolaño 2009c: 126), was so viel bedeutet wie: der Rest der Bevölkerung weiß nichts, ist aber liebenswürdig. Diese Güte lässt Thomas Bernhard wiederholt walten bei den sogenannten einfachen Menschen, etwa den Bergleuten oder Gärtnern in Auslöschung (1986): »Es hat mich immer zu den einfachen Menschen hingezogen, hatte ich zu Gambetti gesagt. Bei ihnen und nur bei ihnen fühlte ich mich wohl. Sie hatten meine ganze Sympathie.« (W9: 108) Die Sympathie rührt auch daher, dass sich die Verdammenden zuletzt selbst als verdammenswert erkennen, als Teil des Problems, schlicht als heuchlerisch. Als am Ende Pater Urrutia Lacroix aus dem Leben scheidet, sieht er die Verabscheuungswürdigkeit in sich selbst und dann bricht er los, der Orkan:
Ist er das, der wahrhaftige, der entsetzliche Schrecken, ich selbst könnte der vergreiste Grünschnabel sein, der schreit, ohne daß ihm jemand zuhört? Ich wäre jener bedauernswerte vergreiste Grünschnabel? Und dann sausen sie an mir vorüber mit rasender Geschwindigkeit, die Gesichter, die ich bewunderte, die ich liebte, haßte, beneidete, verachtete. Die Gesichter, die ich beschützte, die ich attackierte, gegen die ich mich verteidigte, nach denen ich vergeblich auf der Suche war.
Und dann bricht er los, der Orkan aus Scheiße.
Roberto Bolaño: Chilenisches Nachtstück, Frankfurt am Main: Fischer 2020, S. 156f.**
Luis Ketter
Zitate im Original
* »El asco, por supuesto, no es sólo un ajuste de cuentas o la expresión de profundo desaliento de un escritor ante una situación moral y política, sino también un ejercicio estilístico, la parodia que hace Castellanos Moya de ciertas obras de Bernhard y también una novela para morirse de risa. Lamentablemente, en El Salvador muy pocas personas han leído a Bernhard, y aún muchas menos mantienen vivo el sentido del humor. Con la patria no se juega. Ésa es la divisa y no sólo en El Salvador, también en Chile y en Cuba, en Perú y en México, e incluso en Austria y más de otro país o región europeas. Si Castellanos Moya fuera bosnio o kosovar y hubiera escrito y publicado este libro allí, seguramente no hubiera tenido tiempo de tomar el avión. Aquí reside una de las muchas virtudes de este libro: se hace insoportable para los nacionalistas. Su humor ácido, similar a una película de Buster Keaton y a una bomba de relojería, amenaza la estabilidad hormonal de los imbéciles, quienes al leerlo sienten el irrefrenable deseo de colgar en la plaza pública al autor. La verdad, no concibo honor más alto para un escritor de verdad.« (Bolaño 2009b: 172)
** »¿Esto es el verdadero, el gran terror, ser yo el joven envejecido que grita sin que nadie lo escuche? ¿Y que el pobre joven envejecido sea yo? Y entonces pasan a una velocidad de vértigo los rostros que admiré, los rostros que amé, odié, envidié, desprecié. Los rostros que protegí, los que ataqué, los rostros de los que me defendí, los que busqué vanamente. Y después se desata la tormenta de mierda.« (Bolaño 2009c: 149f.)
Literaturverzeichnis
Bernhard, Thomas: Auslöschung [= Werke 9], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
Bolaño, Roberto: 2666, 4. Aufl. Barcelona: Anagrama 2005.
Bolaño, Roberto: 2666, übers. von Christian Hansen. München: Hanser 2009a.
Bolaño, Roberto: Entre paréntesis: Ensayos, artículos y discursos (1998-2003), 4. Aufl. Barcelona: Anagrama 2009b.
Bolaño, Roberto: Nocturno de Chile. Barcelona: Anagrama 2009c.
Bolaño, Roberto: Chilenisches Nachtstück, übers. von Heinrich von Berenberg. Frankfurt am Main: Fischer 2020.
Halle, Ruth: »Wer war Roberto Bolaño?«. In: Ö1, Kulturjournal, 21. Oktober 2011.
Rohter, Larry: »Harvesting Fragments From a Chilean Master«. In: The New York Times, 20. Dezember 2012.