Israël Eliraz

Eintrag: Frankreich / Israel

Aufgewachsen in Jerusalem, führen Israël Eliraz (1936-2016) seine Studien- und Forschungsaktivitäten (Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft, Philosophie) in die USA, nach Belgien und nach Frankreich, wo einige seiner Bücher zuerst in von ihm beaufsichtigter französischer Übersetzung erscheinen, später in hebräischer Sprache. Eliraz’ literarisches Schaffen nimmt in den späten 1950er Jahren mit Dramen seinen Anfang, es folgen Prosa und Libretti, unter anderem für die Oper Ashmedai des Komponisten Josef Tal, die 1971 an der Hamburger Staatsoper Premiere hat und später an der New York City Opera aufgeführt wird. Schließlicht legt er seinen Schwerpunkt ganz auf die Lyrik, zu der auch der 2006 veröffentlichte Band Chez Thomas Bernhard à Steinhof (dt. Bei Thomas Bernhard in Steinhof) zählt.

Der Handlungsort ›Am Steinhof‹ wird in Eliraz’ Anmerkungen zu Chez Thomas Bernhard à Steinhof als psychiatrische Einrichtung vorgestellt, in der Bernhard und einige von dessen Familienmitgliedern interniert gewesen sind (»Steinhof est un institut psychiatrique près de Vienne où l’auteur autrichien, Thomas Bernhard et quelques autres membres de sa famille ont été quelque temps internés«, Eliraz 2006: 151). Eine Andeutung aus Bernhards Holzfällen (1984) außer Acht lassend, nach der das Ich in den fünfziger Jahren von seinen künstlerischen Förderern »in die äußerste Ausweglosigkeit« und damit letztlich »sogar nach Steinhof« (W7: 15) getrieben wurde, rührt Bernhards Vertrautheit mit der Klinik vor allem von einem Aufenthalt im angrenzenden Areal der Lungenklinik, den er in seiner autofiktionalen Erzählung Wittgensteins Neffe (1982) näher beschreibt. Auch ist es kein Familienmitglied, sondern ein bald im Stich gelassener Freund, der exzentrische Paul Wittgenstein, der sich unweit in den psychiatrischen Pavillons befindet. Der Austausch auf dem Gelände gestaltet sich schwierig und verlagert sich bald ganz ins Kontemplative. Eliraz’ fiktionaler Thomas Bernhard denkt und spricht in Steinhof überwiegend mit sich selbst, der Einschub »sagt Thomas« (»dit Thomas«) zieht sich durch die Gedichte.

Bin ich zeitgenössisch, fragt sich

Thomas Bernhard. Was will er

damit sagen

 

Er erwacht im Kind

wie eine Katze in

ihrem Doppelgänger

 

Auf der Tischkante, neben

einem Glas, ein Ziegelstein

 

Dabei bleiben heißt 

ins Wesentliche fallen

 

Magische Donnerstage, entstellt

von der Sinnlosigkeit

 

Nichts beginnt von Neuem jenseits davon

Israël Eliraz: Chez Thomas Bernhard à Steinhof, übers. von Jacques Dupin, Joseph Guglielmi, Anne de Staël, Paris: Éditions Corti 2006, S. 17 (Übers. J.W.).*

Steinhof findet in Bernhards Gesamtwerk mehrfach und meist psychiatriekritisch Erwähnung, neben den Schilderungen in Wittgensteins Neffe am umfangreichsten als Verwahrungssackgasse in der Erzählung Gehen (1971). Eliraz hatte während der Arbeit an Chez Thomas Bernhard à Steinhof allerdings nicht diese beiden Erzählungen, sondern drei Theaterstücke vor Augen, Vor dem Ruhestand (1979), Ritter Dene Voss (1986) und Heldenplatz (1988), von denen letztere beide ambivalente Psychiatrie-Bilder entwerfen. In Heldenplatz hofft Frau Schuster durch wiederholte Kur-Aufenthalte in jener Anstalt, in der es während des Nationalsozialismus zu systematischen Tötungen gekommen ist, endlich auf Heilung von den akustischen Flashbacks der Hitler zujubelnden Masse beim Anschluss Österreichs 1938, doch die »elektrischen Schock[s]« (W20: 232) bringen keine Besserung. In Ritter, Dene, Voss (Eliraz als Déjeuner chez Wittgenstein vorliegend) zieht der wohlhabende Ludwig Worringer (eine an Paul und Ludwig Wittgenstein angelehnte Figur) die Anstalt »als Philosophenklause« (W19: 265) dem freien Leben mit seiner Familie vor, so wie Paul Wittgenstein in Wittgensteins Neffe von Steinhof als der »eigentlichen Heimat« (W13: 307) spricht. Worringer muss vor Ort ebenfalls erfahren, wie sich mit der Personalkontinuität seit der Kriegszeit menschenunwürdige Behandlungspraxen halten, doch kündigt der Anstaltsdirektor in der Ferne eine neue Zeit an – Eliraz wählt sein »…viendra un temps où à Steinhof aussi il n’y aura plus de soupe aux pois« (Eliraz 2006: 7) als Motto den Gedichtband:

Der Direktor hat gesagt

es wird eine Zeit kommen

in der es auch in Steinhof

keine Erbsensuppe mehr gibt 

Thomas Bernhard: Dramen V [= Werke 19], hg. von Martin Huber, Bernhard Judex und Manfred Mittermayer, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 19.

Chez Thomas Bernhard à Steinhof, in dem neben der Hauptfigur Thomas Bernhard auch Mozart, Nietzsche und Bachmann namentlich in Erscheinung treten, ist nicht der erste Gedichtband, in dem Eliraz in Dialog mit der Kultur- und Geistesgeschichte tritt, wie schon die Titel früherer Veröffentlichungen (z. B. 2004 Dîner avec Spinoza et quelques amis; dt. Abendessen mit Spinoza und einigen Freunden) illustrieren. Es ist auch nicht der einzige Auftritt Thomas Bernhards: 2016, in Eliraz’ letztem Lebensjahr, verewigt er Bernhards Figur Reger aus dem Roman Alte Meister (1985) in seinem Band Ma haya acharkach? (dt. Was war danach?), in dem er sich Regers obsessivem Betrachten von Tintorettos »Weißbärtigem Mann« im Wiener Kunsthistorischen Museum erkenntnistheoretisch nähert und damit neuerlich auf Wittgenstein zurückweist, konkret auf seine Reflexionen Über Gewißheit: »Nichts spricht dagegen und alles dafür, daß der Tisch dort auch dann vorhanden ist, wenn niemand ihn sieht? Was spricht denn dafür?« (Wittgenstein 1970: §119):

Wir erkennen, dass etwas, inmitten des Fotos,

das wir noch nicht ganz erfasst haben, klarer wird.

Thomas Bernhard erzählt in seinem Buch von jemandem,

der täglich zurückkehrt, auf demselben Stuhl sitzt,

in der Galerie des Österreichischen Nationalmuseums,

und dasselbe ausgewählte Gemälde betrachtet.

Jeden Tag muss er mit eigenen Augen

dasselbe »Etwas« sehen, das, wenn er es nicht

täglich betrachtet, für ihn nicht existiert. 

Israël Eliraz: Ma haya acharkach?, Tel Aviv: Afik 2016 (Übers. T. K.).*

Hier erscheint ›die weiße Stadt‹ Steinhof noch einmal am Horizont, insofern als Reger bewusst ist, dass er durch sein Tun in die Einzugssphäre der Anstalt gerät, dass er wie Karrer, Frau Schuster, Ludwig Worringer und Paul Wittgenstein allzu leicht dort landen könnte: »Die Leute sind ja gleich dabei, einen Menschen wie mich ins Irrenhaus zu schicken, also nach Steinhof zu schicken, wenn sie erfahren, daß dieser Mensch seit dreißig Jahren jeden zweiten Tag ins Kunsthistorische Museum geht, um auf der Bordone-Saal-Sitzbank Platz zu nehmen.« (W8: 128f.)

 

 

Juliane Werner

Zitate im Original

* »Suis-je contemporain, se demande

Thomas Bernhard. Que veut-il

dire par là

Il se réveille dans l’enfant

comme un chat dans

son double

Sur la lèvre de la table, près

d’un verre, une brique

Rester avec ça c’est tomber

dans l’essentiel

Jeudis magiques, défigurés

par le non-sens

Rien recommence au-delà«

(Eliraz 2006: S. 17)

,אנו נוכחים לדעת שמשהו, בתוך התצלום**

.שעדיין לא עמדנו עליו, הולך ומתבהר

תומס ברנהרד מספר בספרו על מי שחוזר

מדי־יום, מתיישב על אותו כסא, בגלריה

שבמוזיאון הלאומי האוסטרי, ועוקב אחר אותה

תמונה נבחרת. כל יום עליו לראות, במו־

עיניו, את אותו “דבר”, שאם הוא אינו

מביט בו, מדי־יום, הוא לא שם בשבילו

(Eliraz 2016: n. p.)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Alte Meister. Komödie [= Werke 8], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

Bernhard, Thomas: Erzählungen III [= Werke 13], hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

Bernhard, Thomas: Dramen V [= Werke 19], hg. von Martin Huber, Bernhard Judex und Manfred Mittermayer. Berlin: Suhrkamp 2011.

Bernhard, Thomas: Dramen VI [= Werke 20], hg. von Martin Huber und Bernhard Judex. Berlin: Suhrkamp 2012.

Bernhard, Thomas: Holzfällen. Eine Erregung [= Werke 7], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.

Eliraz, Israël: Ma haya acharkach? Tel Aviv: Afik 2016.

Eliraz, Israël: Chez Thomas Bernhard à Steinhof, übers. von Jacques Dupin, Joseph Guglielmi, Anne de Staël. Paris: Éditions Corti 2006.

Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit, hg. von G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970.