Mieko Kanai

(Geb. 1947 in Takasaki)

Momoko lebte seit zehn Jahren mit ihrer Mutter zusammen, die im Juni ins Krankenhaus eingeliefert worden war und nun schon zwei Monate dort lag, erzählte ein wenig erschöpft von einer zweizeiligen Werbeanzeige für das Magazin Croissant, die obere Zeile in großer, die darunter in etwas kleinerer die obere Zeile in großer, die darunter in etwas kleinerer Schrift: Um Ihren Spirit jung zu erhalten, müssen Sie Ihr Herz nähren! Haben Sie in letzter Zeit ein Buch gelesen, das Ihr Herz erobert hat? Sie hatte die Zeitschrift nicht gekauft und sagte, das mit dem ›Spirit‹ fand ich so blöd, und dann auch noch ein so hauswirtschaftliches Wort wie ›nähren‹, aber es stimmt, dass ich in letzter Zeit kein Buch zu Ende gelesen habe, und wenn ich darüber nachdenke, liegt es weniger daran, dass ich keine Zeit hatte, als daran, dass ich mich um meine Mutter kümmern muss, aber wenn ich wirklich hätte lesen wollen oder müssen, hätte ich sicher irgendwie die Zeit gefunden, aber im Grunde habe ich keine Lust zu lesen, und es hat keinen Sinn, so zu tun, als ob, ich konnte einfach nicht, sagte sie, und Natsumi antwortete, ihr gehe es genauso, aber Matsumoto und Yukari, die einen Beruf hatten, in dem von ihnen erwartet wurde, dass sie lasen, reagierten überhaupt nicht, während Setchan mitleidig das Gesicht verzog, dann erzählte Uchida (die mit Mädchennamen Hashizume hieß), ihr Mann, der in der Verkaufsabteilung einer Firma für Aluminiumfensterrahmen arbeitete, habe eine Woche Urlaub genommen, um sich als Freiwilliger in Kobe an der Erdbebenhilfe zu beteiligen (…).

Mieko Kanai: Leichter Schwindel, übers. von Ursula Gräfe, Berlin: Suhrkamp 2025, S. 97f.