Daša Drndić

Daša Drndić (geb. 1946 in Zagreb, gest. 2018 in Rijeka) war eine kroatische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, deren literarisches Schaffen bis in die frühen 1980er Jahre zurückreicht. Drndić hat in Belgrad und Rijeka Anglistik, Theater- und Kommunikationswissenschaften studiert, mit längeren Studienaufhalten in Illinois und Ohio. Nach Lehraufträgen an amerikanischen und kanadischen Universitäten unterrichtete sie zuletzt in Rijeka. Daneben verfasste und produzierte sie zahlreiche Hörspiele und gestaltete Dokumentarsendungen für Radio Belgrad. Der dokumentarische Zugang zeichnet auch ihr bekanntestes literarisches Werk aus, für das sie zwei Jahre lang recherchiert hat, um historisches Material mit fiktiven Elementen zu einer komplexen transmedialen Komposition zu verbinden: zu dem laut Untertitel ›dokumentarischen Roman‹ Sonnenschein (2007).

Die 83jährige Hauptfigur Haya Tedeschi sucht seit über 60 Jahren ihren Sohn Antonio, der, aus einer Liaison mit einem SS-Offizier hervorgegangen, 1945 von den Nationalsozialisten entführt wurde. Als einzige Überlebende ihrer Familie beginnt Haya von Gorizia an der italienisch-slowenischen Grenze aus ihre Nachforschungen. Ihr begegnen Schicksale in Zeugenaussagen und Zeitungsausschnitten, in Postkarten und Photographien, Namenslisten von Deportierten, Verwaltungsmaterial und Erlebensberichte aus Konzentrationslagern, Elemente, die Drndić in den Text montiert – darin nicht unähnlich W. G. Sebalds sechs Jahre zuvor erschienenem Austerlitz.

Der verlorene Sohn ist indessen längst selbst auf der Suche. In der Obhut einer österreichischen Adoptivfamilie aufgewachsen, kehrt Antonio Tedeschi – nun Hans Traube – als Fotograf zum Schloss Oberweis im Bezirk Gmunden zurück, zum seinerzeit der NS-Organisation Lebensborn angehörenden Heim ›Alpenland‹, in das er nach seiner Entführung im Kindesalter gebracht wurde. An diesem Ort trifft Hans auf Thomas Bernhard:

Wir gingen gerade am Schloss Oberweis vorbei, ich machte ein paar Aufnahmen von dem wunderschönen Gebäude, wie Bernhard sagte, einst im Besitz einer jüdischen Familie, die verschwunden ist, aber heute ist Oberweis wieder in Privatbesitz, sagte Bernhard, und der Öffentlichkeit nicht zugänglich, das betonte er, wobei mich das nicht stört, denn ich will nicht näher ran. Im Unterschied zu Schloss Oberweis, das von Anfang an als Prachtbau gedacht war, sagte Bernhard, ist mein Haus der allergewöhnlichste Stall, heruntergekommen und im Zustand des totalen Verfalls, aber das hat mir gefallen, es hat mir gefallen, etwas derart Heruntergekommenes in einen annehmbaren Zustand zu versetzen, sagte er, also habe ich mich entschlossen, das verfaulte Gemäuer zu sanieren, sagte er, soweit es eben möglich gewesen ist, auch wenn fraglich bleibt, bis zu welchem Grad sich etwas gründlich Verfaultes gründlich sanieren lässt.

Daša Drndić: Sonnenschein, übers. von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić, Hamburg: Hoffmann und Campe 2015, S. 329f.*

Thomas Bernhard kontrastiert die Pracht des Schlosses mit dem desolaten Zustand seiner eigenen nahgelegenen Behausung, bei der es sich um den jahrhundertealten Vierkanthof handeln dürfte, den der Autor Bernhard von Preisgeldern für seinen ersten Roman Frost (1964) erworben und dann aufwändig renoviert hat. Sonnenschein tritt in dieser Passage, wie Drndić im Anhang erklärt, in Austausch mit Thomas Bernhards autobiografischem Werk Die Ursache. Eine Andeutung (1975), gleichfalls mit einem Interview, das Niklas Frank mit Thomas Bernhard geführt hat und das am 4. Juni 1981 unter dem Titel »Ansichten eines unverbesserlichen Weltverbesserers« im Stern erschienen ist. Niklas Frank, Sohn des 1946 im Zuge der Nürnberger Prozessen hingerichteten einstigen Generalgouverneurs von Polen, Hans Frank, würde später einen eigenen Versuch der Vergangenheitsbewältigung unternehmen im Hinblick auf seine Eltern, den »Schlächter« (Frank 2005: 360) und die »Königin von Polen« (Frank 1991: 83), mit dem an Bernhard angelehnten Titel Der Vater. Eine Abrechnung (1987). Mit Niklas Franks Stimme überlegt Antonio/Hans: 

Warum mir Bernhard damals, 1988, nicht das Wichtigste über Schloss Oberweis erzählte, weiß ich nicht, aber alles hat wohl seine Zeit und nimmt seinen Lauf. Er sagte, vor langem hat sich herausgestellt, dass der Lernstoff früher auf Lug und Trug beruhte. Früher konnte ich nicht in das alltägliche, tödliche Spiel der Existenz eindringen, hatte weder die geistige noch die physische Kraft dazu, aber heute kommt dieser Mechanismus von selbst in Gang, sagte er. Das ist das tägliche In-Ordnung-Bringen der Dinge, das Aufräumen im Kopf: Jeden Tag muss jedes Ding an seinen Platz gestellt werden, sagte er.

Drndić: Sonnenschein, S. 330.**

Zitiert wird damit eine Textstelle aus Bernhards autobiografischer Schrift Der Keller. Eine Entziehung (1976), in der der Schüler Bernhard beschlossen hat, die psychischen Wirrnisse seiner Jugend hinter sich zu lassen durch einen ganz rational-zweckorientierten Zugang zur Existenz als Einzelhandelslehrling: »Daß Sich-ununterbrochen-Disziplinieren die Voraussetzung ist für das tagtägliche Weiterkommen, ununterbrochen Ordnungmachen nicht nur im eigenen Kopf, sondern in allen tagtäglichen kleinen und kleinsten Dingen« (W10: 173), heißt es da, und später wie zur Erinnerung erneut: »Es ist ein tagtägliches Ordnungmachen, in meinem Kopf wird aufgeräumt, die Dinge werden jeden Tag an ihren Platz gestellt. Was unbrauchbar ist, wird verworfen und ganz einfach aus meinem Kopf hinausgeworfen.« (W10: 202) Hans Traubes Aufklärungsbemühungen, sein ›Ordnungmachen‹ die eigene Vergangenheit betreffend, laufen letztlich ins Leere, nicht wegen der Überfülle an zutage geförderten Informationen, sondern durch die ausbleibende Erlösung:

Nach acht Jahren meine ich, dass die Suche abgeschlossen ist. Ich glaube, dass ich die wesentlichen Einzelheiten über mein Leben kenne, und da mir diese wesentlichen Einzelheiten über mein Leben jetzt bekannt sind, bin ich davon überzeugt, dass sie bald für mich unwesentlich und unbrauchbar sein werden, all diese Einzelheiten, nach denen ich acht Jahre lang wie wild gefahndet habe, wegen derer ich halb von Sinnen Archive in verschiedenen Städten, verschiedenen Ländern durchforstet und unzählige, wie ich jetzt erkenne, absolut sinnlose Details ermittelt habe, und deswegen weiß ich, dass ich bald wie Thomas Bernhard beim letzten Mal, als ich ihn fotografiert habe, sagen werde, servus, jetzt ist alles egal.

Drndić: Sonnenschein, S. 329.***

Dieser Abschiedssatz zwischen Hans Traube und Thomas Bernhard greift eine weitere Schlüsselszene aus Der Keller auf, in dem der jugendliche Bernhard die stoizistischen Ratschläge seines Vorgesetzten, des gescheiterten Musikers und nun Lebensmittelhändlers Karl Podlaha, über die Gleichwertigkeit aller Dinge auf- und für sich annimmt:

In einem gewissen Sinn, sagte er, ohne zu sagen, was er darunter verstand, und es war darunter auch gar nichts zu verstehen, sei er mit seiner Lage zufrieden, sei sie auch noch so beschissen. In seinem Alter sei einem alles gleichgültig, man hänge am Leben, aber egal sei es auch, wenn es vorbei sei. Egal, das war es. Das ist eine Altersfrage. Egal. Auch mir war zu diesem Zeitpunkt alles egal. Ein schönes, ein klares, ein kurzes, einprägsames Wort: egal. Wir verstanden uns. (…) Servus und es ist alles egal, hatte er zum Abschluß gesagt, als ob ich das gesagt hätte.

Thomas Bernhard: Die Autobiographie [= Werke 10], hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 211ff.

Hans Traubes finales Sinnieren, wie sich die ganzen Aufarbeitungen, all die Akten, die Vergangenheit seiner Mutter mit den seinen in Deckung bringen ließen, wenn sie einander träfen, lässt der Roman Sonnenschein mit ebendieser equilibristischen Szene enden.

Ich werde dann sagen

Danke

und servus

jetzt ist alles gleich. 

Drndić: Sonnenschein, S. 394.

 

Juliane Werner

Zitate im Original

* »Prošli smo onda pokraj dvorca Oberweis i napravio sam nekoliko fotografija te prekrasne gra- đevine, kako reče Thomas, nekada u vlasništvu židovske obitelji koja je nestala, a danas je Oberweis ponovno u privatnom vlasništvu, rekao je Bernhard, i nepristupačan je, naglasio je, premda me to ne uzrujava, jer ionako nemam nikakvu želju pristupiti mu. Za razliku od dvorca Oberweis koji je od početka zamišljen da bude grandiozan, rekao je Bernhard, ova moja kuća bila je obična štala, trula i u stanju potpunog raspadanja, ali to mi se dopalo, dopalo mi se dovesti takvo trulo stanje u nekakav prihvatljiv red, rekao je, pa sam ovu nekadašnju trulež odlučio sanirati, rekao je, onoliko koliko je to bilo moguće, premda i dalje ostaje upitno do koje se mjere temeljna trulež uopće može temeljno sanirati.« (Drndić 2007: 348f.)

** »Zašto mi Bernhard tada, 1988. nije rekao najvažnije podatke o dvorcu Oberweis, ne znam, ali sve valjda ima svoje vrijeme i svoj tok. Rekao je, odavno se ispostavilo da je ono čemu su nas učili prevara. Prije nisam mogao zadrijeti u svakodnevnu, smrtonosnu igru egzistencije, nisam za to imao ni duhovne ni fizičke snage, a danas se taj mehanizam pokreće sam, rekao je. To je svakodnevno dovođenje stvari u red, pospremanje u glavi: svaki se dan svaka stvar mora staviti na svoje mjesto, rekao je.« (Drndić 2007: 349)

*** »Nakon osam godina mislim da je potraga završena. Vjerujem da znam bitne pojedinosti o svom životu i s obzirom na to da su mi te bitne pojedinosti o mom životu sada poznate, uvjeren sam da mi one više neće biti bitne, da će mi uskoro postati skroz nebitne i nepotrebne, sve te pojedinosti koje sam osam godina kao lud istraživao, izbezumljeno kopajući po arhivama raznih gradova, raznih zemalja, istražujući bezbroj detalja, sad vidim – apsolutno besmislenih detalja, i zato zapravo znam da ću uskoro reći, kao Thomas (Bernhard) što je zakao kad sam ga 1988. posljednji put fotografirao, vjerujeno da ću reći servus, sad je sve svejedno.« (Drndić 2007: 347f.)

**** 

Ja ću onda reći
hvala
i servus,
sad je sve svejedno

(Drndić 2007: 412)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Die Autobiographie [= Werke 10], hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

Bernhard, Thomas: Journalistisches, Reden, Interviews [= Werke 22.1 und 22.2], hg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer, Berlin: Suhrkamp 2015. 

Drndić, Daša: Sonnenschein. dokumentarni roman. Zaprešić: Fraktura 2007.

Drndić, Daša: Sonnenschein. Roman, übers. von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić. Hamburg: Hoffmann und Campe 2015.

Frank, Niklas: »Ansichten eines unverbesserlichen Weltverbesserers. Interview mit Niklas Frank« (1981). In: Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard, hg. von Sepp Dreissinger. Weitra: Bibliothek der Provinz 1992. S. 89-94. 

Frank, Niklas: Der Vater. Eine Abrechnung. München: Bertelsmann 1991. 

Frank, Niklas: Meine deutsche Mutter. München: Bertelsmann 2005. 

Frank, Niklas: »Wie wir wurden, was wir sind«, Interview mit Sven Michaelsen. In: Süddeutsche Zeitung, 14. März 2024.