Andrej Nikolaidis

(Eintrag: Bosnien und Herzegowina / Montenegro)

Andrej Nikolaidis, geboren und aufgewachsen in der multiethnischen, multikonfessionellen Welt Sarajevos, floh 1992 mit 18 Jahren vor dem Bosnienkrieg. Heute montenegrinischer Staatsbürger – die Heimat seines Vaters – ist er ein scharfsichtiger Beobachter der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Region. Seine Kompromisslosigkeit gegenüber Nationalismus, Korruption und provinziellem Kleingeist macht ihn zu einer Reizfigur, die schon lang den Ruf eines bernhardäquivalenten Nestbeschmutzers hat, samt juristischen Belangungen, wie die Verleumdungsklage nach der Kritik am Regisseur Emir Kusturica 2004. Nikolaidis’ Schreiben verbindet die sprachlichen und intellektuellen Strömungen des ehemaligen Jugoslawiens mit dem kulturellen Erbe Mitteleuropas und zeitgenössischen internationalen Diskursen. Zu seinen literarisch-philosophischen Einflüssen zählen neben Thomas Bernhard unter anderem Trakl, Musil, Zweig und Celan, aber auch Jorge Luis Borges, Jacques Lacan und Slavoj Žižek.

In Montenegro, wo er noch heute in Ulcinj lebt, liest Nikolaidis seinen ersten Bernhard, Der Untergeher (1983; zuerst 2005 auf Kroatisch, als Gubitnik, 2011 auf Serbisch). Nachdem in Montenegro seinerzeit Hyperinflation geherrscht habe und sicherlich kein Geld vorhanden war, fragt er sich heute noch, wer ihm Der Untergeher geliehen hat; nur so viel ist gewiss, die Person hat das Buch nie wiedergesehen: »The Loser still sits on my bookshelf today, together with the other translations of Bernhard that have been published in Bosnia, Croatia, Montenegro or Serbia.« (Nikolaidis 2013: n. p.) Nikolaidis kann von Anfang an fundamentale Parallelen zwischen seiner und der von Bernhard entworfenen Lebenswelt spüren, vor allem soziopolitische: »Bernhard writes about society in collapse: society rotten with dishonesty, corruption and deep-rooted lies. Montenegro at that time was just such a society.« Die Rolle des Störenfrieds ist keine Kurzzeitbeschäftigung, der Autor bleibt »in conflict with Montenegrin society since the day I arrived here.« (Nikolaidis 2013: n. p.)

Werkübergreifend fühlen sich Nikolaidis’ Figuren an Bernhard und seine Figuren erinnert, ein pfeifenrauchender Psychoanalytiker in Dolazak (dt. Die Ankunft, 2014) wird charakterisiert wie Bruno Ganz in seiner Glanzrolle in Der Ignorant und der Wahnsinnige (vgl. Nikolaidis 2009: 45), andere Figuren stoßen Verfluchungen aus, die Bernhard-Lesenden bekannt vorkommen, etwa im Roman Anomalija (2022) vernichtende Aussagen über Nächstenliebe (als das Gegenteil von Selbstlosigkeit) oder über den haarsträubenden Umgang der Menschen mit dem, was der Fall ist: »Wir leben in einer Welt, die Ehrlichkeit nicht erträgt und die Wahrheit als schlimmste Beleidigung behandelt.« (»Živimo u svijetu koji ne podnosi iskrenost a istinu tretira kao najcrnju uvredu«, Nikolaidis 2022: 84, Übers. M. H.) Entsprechend sind alle Unterhaltungen von Vornherein sinnlos, wie in Der ungarische Satz (2018) im klassischen Verdammungston zu lesen ist:

(…) und so gelingt es dem Gedanken nicht, in die Welt vorzudringen, die unter der Tyrannei der Ignoranz röchelt, was die wahre Bezeichnung für die sogenannte Demokratie und die sogenannte öffentliche Meinung ist, warum auch, wenn man, um sich am Dialog zu beteiligen, nichts wissen oder denken muss, wenn es genügt, am Leben zu sein, weshalb sich alle, die etwas wissen, aus dem Gespräch zurückziehen, denn natürlich fällt es ihnen nicht im Traum ein, mit Horden von Dummköpfen zu debattieren, weshalb es schließlich möglich ist, dass sich die Fürsprecher des Dialogs auf seine antiken Wurzeln berufen, obwohl jeder, der Platon gelesen hat, weiß, wie die berühmten Dialoge des Sokrates aussehen, mit denen die Ignoranten ihre Dummheitsorgien legitimieren, die Dialoge des Sokrates, eigentlich Monologe des Sokrates, nach welchen dessen Schüler, wenn sie das Wort bekommen, »So ist es, Sokrates, so und nicht anders« sagen, so sieht die antike Wurzel unserer heutigen Toleranzkultur aus, und deshalb sage ich, dass es immer gut ist, wenn niemand etwas fragt (…).

Andrej Nikolaidis: Der ungarische Satz, übers. von Margit Jugo, Dresden und Leipzig: Voland & Quist 2018, S. 11f.*

Der sokratische Scheindialog als Ausgangspunkt für Bernhards exzessiv stumme oder rein affirmierend agierende Zuhörfiguren erscheint noch als die beste Alternative zu dem, was an Zwie- und Multigesprächen sonst unternommen wird.

Debatten haßte er

nichts haßte er so wie Debatten

Debatten führen zu nichts

Alle Welt debattiert und es kommt nur Unsinn heraus

hat er immer gesagt

Thomas Bernhard: Heldenplatz, in: Dramen VI [= Werke 20], hg. von Martin Huber und Bernhard Judex, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 323.

Nikolaidis’ Figuren erscheinen so misanthropisch, dass die diesbezügliche Einschätzung leicht auf den Autor abfärben mag, eine Übertragung, für die Thomas Bernhard laut Nikolaidis das beste Beispiel ist: »Oder man kann es so machen, wie Thomas Bernhard es gemacht hat, sich bewusst, dass die Welt ihre Existenz der Dummheit ihrer Opfer schuldet, verkünden, dass ›Redet man mit einem Menschen|stellt sich heraus er ist ein Idiot‹, und als Misanthrop gebrandmarkt werden.« (»Sa druge strane možeš, kao što je učinio Thomas Bernhard, svjestan da svijet postojanje duguje gluposti svojih žrtava, saopštiti kako ›razgovarati sa čovjekom znači razgovarati sa idiotom‹ – pa biti žigosan kao mizantrop«, Nikolaidis 2018: 84, Übers. M. H.). Mit diesem Ausspruch zitiert Nikolaidis aus Heldenplatz (1988, W20: 302), doch finden sich viele Variationen, z. B. im Stück Macht der Gewohnheit (1974): »Das Gegenüber|immer|in jedem Fall ein Idiot« (W16: 58) oder in Der Theatermacher (1984): »Gleich mit wem wir reden|es stellt sich heraus|es ist ein Dummkopf« (W19: 139). Die Einsicht führt nicht nur für Nikolaidis unweigerlich zu einer weiteren, den näheren Menschenkontakt betreffend: »Zwischenmenschliche Beziehungen sind ein Albtraum, aus dem wir nie erwachen, sagte ich zu mir« (Nikolaidis 2015: 62; »Međuljudski odnosi su košmar iz kojeg se nikada ne budimo, rekoh sebi«, Nikolaidis 2006: 55), beginnend damit, »wie unsere Eltern uns fortwährend und egal, was sie tun, allein durch ihre Existenz zerstören, wie auch wir sie allein durch unsere Existenz zerstören« (Nikolaidis 2015: 61f.; »kao naši roditelji neprekidno i u svakom slučaju, ma šta da rade, samim svojim postojanjem uništavaju, kao što i mi samim svojim postojanjem uništavamo njih«, Nikolaidis 2006: 55). 

Diese Passagen entstammen dem Roman Sin (2006, dt. Der Sohn, 2015), für den Andrej Nikolaidis 2011 den Literaturpreis der Europäischen Union erhalten hat. Es ist der Roman, der »nebenbei auch eine Hommage an Thomas Bernhard darstellt«, wie Margit Jugo im Nachwort ihrer Übersetzung ins Deutsche betont. Schon das Motto ist Bernhards Der Keller. Eine Entziehung (1976) entnommen und lautet: »So ist jeder, gleich, was er ist, und ganz gleich, was er tut, immer wieder auf sich zurückgeworfen, ein auf sich selbst angewiesener Albtraum« (W10: 205). Diesem Leitsatz folgend greift Nikolaidis weitere Inhalte aus dem autobiografischen Band auf, der die Selbstermächtigung des Jugendlichen Thomas Bernhard in Szene setzt, jenes am Mönchsberg und also potentiell am Lebensende Angekommenen, der sich dann nicht hinabstürzt, sondern die andere Richtung einschlägt, Richtung Kaufmannslehre, wo er zum Lehrlingsgehalt gleich Lebensweisheiten mitgeliefert bekommt. Nikolaidis’ Ich möchte einem ehemaligen Mitschüler, der hiobsgleich ein Unglück an das nächste reiht und dem er zuvor nie geholfen hat, nun Bernhard zum Trost anbieten:

Dabei wollte ich ihm eigentlich etwas Lehrreiches und Tröstliches sagen. Ich wollte ihm von Bernhard erzählen. Der Gedanke an Bernhard tröstet mich immer, denn angesichts eines Unglücks, welches das unsere in allem übersteigt, müssen wir Trost verspüren. Hätte ich es geschafft, Uroš von Bernhard zu erzählen, wäre er in jener Nacht zufrieden eingeschlafen. Denn ich hätte ihm gesagt, dass diese Geschichte uns etwas Wichtiges lehrt: dass menschliches Unglück immer gleich und überall gleichermaßen möglich ist. Grund zum Unglück haben gleichermaßen der ausgehungerte Bauer auf den Reisfeldern Asiens und der depressive Schriftsteller, der in einem Wiener Kaffeehaus Sachertorte isst und Julius-Meinl-Kaffee trinkt. Gleich guten Grund, unglücklich zu sein: er und ich. Denn menschliches Unglück entspringt nicht dem Gesellschaftssystem und der geografischen Lage, sondern der Existenz. Um unglücklich zu sein, genügt es, irgendwo zu sein. Letztlich auch nur zu sein.

Andrej Nikolaidis: Der Sohn, übers. von Margit Jugo, Dresden und Leipzig: Voland & Quist 2015, S. 80f.**

In Der Keller beschreibt Bernhard das menschliche Universalunglück mit Gleichmut (vgl. auch Drndić):

Mein besonderes Kennzeichen heute ist die Gleichgültigkeit, und es ist das Bewußtsein der Gleichwertigkeit alles dessen, das jemals gewesen ist und das ist und das sein wird. Es gibt keine hohen und höheren und höchsten Werte, das hat sich alles erledigt. Die Menschen sind, wie sie sind, und sie sind nicht zu ändern, wie die Gegenstände, die die Menschen gemacht haben und die sie machen und die sie machen werden. Die Natur kennt keine Wertunterschiede. Es sind immer wieder nur Menschen mit allen ihren Schwächen und mit ihrem körperlichen und seelischen Schmutz an jedem neuen Tag. Es ist gleich, ob einer mit seinem Preßlufthammer oder an seiner Schreibmaschine verzweifelt. 

Thomas Bernhard: Die Autobiographie [= Werke 10], hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 211ff.

Dieser Ausschnitt, konkret die letzten fünf Seiten des Werks, sind für Nikolaidis nicht weniger als »the finest piece of prose ever written«: »Those final five pages of The Cellar seem to me to be definitive evidence that it is possible to write dark, existential prose with poetic beauty.« (Nikolaidis 2013: n. p.) In diesem dunklen, existentiellen Schreiben über einen Jugendlichen, der durch das fortdauernde nationalsozialistische Erbe an den Rand der Verzweiflung gerät und fortan nicht aufhört, seine diesbezüglichen Wahrnehmungen zu verschriftlichen, sieht Nikolaidis eine Prosa-Antwort auf Paul Celans »Todesfuge«:

Line by line, page by page, Bernhard digs down to the very last notes of the great composer, to the most subtle combinations of colour of the great artist, to the last punctuation point of the great writer, while posing the same question to his countrymen: Austria – how was this possible? Only to arrive at the most terrible of conclusions: it is still possible.

Nikolaidis: »Andrej Nikolaidis on Thomas Bernhard«, 13. Juni 2013, n. p.

 

 

Juliane Werner

Zitate im Original

* »(…) pa se misao u svijet koji grca pod tiranjom ignorancije, što je pravo ime za takozvanu demokratiju i takozvano javno mnijenje, ne uspijeva probiti, a i zašto bi, kada, da bi bio učesnik u dijalogu, ne moraš znati ili misliti, dovoljno je samo da si živ, zbog čega se iz razgovora povlace svi koji nesto znaju, jer im, podrazumijeva se, ne pada na pamet debatovati sa hordama idiota, zbog čega je napokon, mogucće da se promotori dijaloga pozivaju na njegove antičke korijene, iako svako ko je čitao Platona zna kako izgledaju famozni Sokratovi dijalozi koje ignoranti koriste kao ligitimaciju za svoje orgije gluposti, Sokratovi dijalozi, zapravo Sokratovi monolozi, nakon kojih njegovi učenici, kada dobiju riječ kažu ›tako je Sokrate, tako i nikako drugačije‹, tako dakle izgleda antički korijen naše savremene kulutre tolerancije, zbog čega dakle, kažem dobro je kad god niko ništa ne pita (…).« (Nikolaidis 2017: 12f.)

** »A imao sam dobru volju da mu ispričam nešto poučno i utješno. Htio sam mu ispričati o Bernhardu. Mene uvijek utješi pomisao na Bernharda, jer moramo osjetiti utjehu pred tuđom nesrećom koja po svemu prevazilazi našu. Da sam stigao da mu ispričam o Bernhardu, Uroš bi te noći zaspao zadovoljan. Jer rekao bih mu da nas ta priča uči važnoj stvari: uči nas da je ljudska nesreća uvijek i svuda jednaka i jednako moguća. Razloga za nesreću jednako ima izgladnjeli seljak na pirinčanim poljima Azije i depresivni pisac koji u nekoj bečkoj kafani tromo žvače saher-tortu i pije Julius Meinl kafu. Jednako dobrih razloga za nesreću: i on i ja. Jer ljudska nesreća ne izvire iz društvenog sistema i geografskog položaja, nego iz postojanja. Da bismo bili nesretni, dovoljno je već biti negdje. Zapravo: samo biti.« (Nikolaidis 2006: 74f.)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Die Autobiographie [= Werke 10], hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

Bernhard, Thomas: Dramen II [= Werke 16], hg. von Manfred Mittermayer und Jean-Marie Winkler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 

Bernhard, Thomas: Dramen V [= Werke 19], hg. von Martin Huber, Bernhard Judex und Manfred Mittermayer. Berlin: Suhrkamp 2011. 

Nikolaidis, Andrej: »Andrej Nikoladis on Thomas Bernhard«, 13. Juni 2013. 

Nikolaidis, Andrej: Anomalija. Sarajevo, Zagreb: buybook 2022.

Nikolaidis, Andrej: Dolazak. Zagreb: Algoritam 2009.

Nikolaidis, Andrej: Sin. Zagreb: Durieux 2006. 

Nikolaidis, Andrej: Der Sohn, übers. von Margit Jugo. Dresden und Leipzig: Voland & Quist 2015. 

Nikolaidis, Andrej: Mađarska rečenica. Zagreb: Jesenski i Turk 2017.

Nikolaidis, Andrej: Der ungarische Satz, übers. von Margit Jugo. Dresden und Leipzig: Voland & Quist 2018.