Horacio Castellanos Moya

Horacio Castellanos Moya wurde 1957 in Tegucigalpa, Honduras, in eine Familie voller Gegensätze geboren – der Vater linksgerichteter Schriftsteller aus El Salvador, die Mutter Honduranerin aus konservativem Milieu. Nach den ersten Kindheitsjahren in Honduras zog er 1962 nach El Salvador, wo er zur Schule ging, später Literaturwissenschaft studierte und die Guerilla-Bewegung journalistisch unterstützte. Castellanos Moya ist Autor von Essays, Kurzgeschichten und Romanen, die sich zum Teil sehr kritisch mit El Salvador auseinandersetzen. Nachdem er aufgrund seines Kurzromans El asco. Thomas Bernhard en San Salvador (1997) das Land verlassen musste, lebte er unter anderem in Deutschland, Spanien, Mexiko und Japan und arbeitete zuletzt als Universitätsprofessor in Iowa. 

Dass ein Bernhard-Pastiche auf literarischer Ebene gelingen und dabei dennoch vollkommen schiefgehen kann, zeigt das Schicksal Castellanos Moyas. 1997 veröffentlicht er den Roman El asco, in dem er, wie er im Nachwort erklärt, sowohl Bernhards Schreibstil als auch dessen Kritik am Herkunftsland übernimmt und auf El Salvador überträgt. Nach dem Tod seiner Mutter kehrt die Figur des Universitätsprofessors Eduardo Vega aus dem kanadischen Exil nach San Salvador zurück. Dort erwartet ihn nur Unzumutbares. Grausliches Bier, die dysfunktionale Familie, die fehlende Kultur, die Dauerpräsenz des Militärs, die ultrapatriarchale Gesellschaft, die Korruption, die vor keinem Lebensbereich Halt macht, auch nicht der Medizin (vgl. Maraschi; Trevisan):

Die Ärzte sind die korruptesten Menschen, die ich in diesem Land getroffen habe, Moya, die Ärzte sind solche korrupten Personen, dass man nur Empörung und Ekel empfinden kann, in keinem anderen Land sind die Ärzte so korrupt, so fähig, dich umzubringen, um so viel Geld wie möglich zu kassieren, Moya, die Ärzte in diesem Land sind die unmoralischsten Typen, die nur existieren, das sage ich dir aus eigener Erfahrung, es gibt keine verabscheuungswürdigeren und ekelhafteren Wesen als die Ärzte in diesem Land, ich habe niemals so wüste und so gierige Subjekte gesehen wie die Ärzte von hier, sagte Vega zu mir.

Horacio Castellanos-Moya: El asco. Thomas Bernhard en San Salvador, Barcelona: Tusquets Editores 2007, S. 57f (Übers. A. B.).*

In einem sich über mehr als hundert Seiten erstreckenden Monolog erzählt Vega seinem alten Freund Moya, was ihm alles an seiner alten Heimat verhasst ist. Während Bernhard für seine antiösterreichischen Tiraden meist nur als ›Nestbeschmutzer‹ gegängelt wurde, sieht sich Castellanos Moya mit Morddrohungen konfrontiert (vgl. Castellanos Moya 2007: 135-139). Und das, obwohl Thomas Bernhard als Prätextspender in der spanischsprachigen Welt eigentlich bekannt (vgl. Betz/Mittermayer 2018: 496) und mit dem Untertitel Thomas Bernhard en San Salvador klar gewesen sein dürfte, dass sich Moyas Werk in die Tradition der bernhardschen Übertreibungskunst stellt. Doch nicht nur, dass unter den Simulanten ebenjener infamen Provinz in Wirklichkeit niemand Thomas Bernhard kenne, auch trügt der Untertitel dahingehend, dass sich nicht Thomas Bernhard in San Salvador befindet, sondern der Universitätsprofessor Vega, der seinen Namen, wie er berichtet, in Kanada zu dem des bewunderten österreichischen Schriftstellers geändert hat (»Mi nombre es Thomas Bernhard, me dijo Vega, un nombre que tomé de un escritor austríaco al que admiro y que seguramente ni vos ni los demás simuladores de esta infame provincia conocen«, Castellanos Moya 2007: 126).

Der literarische Geist Thomas Bernhards spricht aus jeder Seite von Castellanos Moyas Roman. In bernhardnahem Erzählstil (vgl. Barton 2016: 64) monologisiert Vega ebenso ausschweifend wie abfällig über San Salvador. Durch Steigerungsformen und Absoluta wird der Eindruck eines komplett verlorenen Staates evoziert, auf den Vega, als einer, der wegging (so wie Murau nach Rom), nicht neutral blicken kann. Was der fiktive, dem Autor namensgleiche Moya denkt und wie er zum Heimatland steht, bleibt unbekannt, er lässt die Ekeläußerungen Vegas gänzlich unkommentiert stehen. Die stetige Adressierung Moyas, die die langen Sätze mit »me dijo Vega« (»sagte mir Vega«) durchbricht, erinnert an die vielen stillen Zuhörer bei Bernhard, wie Gambetti in Auslöschung, deren Wortlosigkeit doch nicht ohne Gewicht im Dialog bleibt (vgl. Werner 2020: 224-227). Auch der reiseanlassgebende Todesfall (vgl. Arudpragasam; Parks) erinnert an Bernhards letzten Roman. Wäre die Mutter nicht verstorben und dem Bruder in Begräbnisdingen wirklich zu trauen, Vega würde nicht schimpfend in einer Bar sitzen. 

Deshalb habe ich mich entschlossen herzukommen, Moya, weil mein kanadischer Pass meine Garantie ist, wenn ich den kanadischen Pass nicht hätte, hätte ich mich niemals entschlossen herzukommen, es wäre mir nicht einmal in den Sinn gekommen, in ein Flugzeug zu steigen, wenn ich meinen kanadischen Pass nicht hätte. 

Castellanos Moya: El asco, S. 23 (Übers. A. B.).**

Trost ist ihm in seiner Verzweiflung immer die kanadische Staatsbürgerschaft und die damit verbundene Möglichkeit, San Salvador wieder zu verlassen. Bis sein Reisepass plötzlich verschwindet.

 

Anna Bauer

Zitate im Original

* »Los médicos son la gente más corrompida que me he encontrado en este país, Moya, los médicos son personas tan corruptas que uno no puede sentir más que indignación y asco, en ningún otro país los médicos son tan corruptos, tan capaces de matarte con tal de arrebatarte la mayor cantidad de dinero possible, Moya, los médicos de este país son los tipos más amorales que puedan existir, te lo digo por experiencia propia, no hay seres más deleznables y vomitivos que los médicos de este país, nunca he visto sujetos tan salvajes y tan voraces como los médicos de aquí, me dijo Vega.« (Castellanos Moya 2007: 57f.)

** »Ahora por eso me animé a venir, Moya, porque mi pasaporte canadiense es mi garantía, si no tuviera este pasaporte canadiense no me hubiere animado jamás a venir, ni se me hubiera ocurrido subir a un avión si no tuviera mi pasaporte canadiense.« (Castellanos Moya 2007: 23)

Literaturverzeichnis

Barton, Peter: »La náusea de hablar: ventriloquia de Thomas Bernhard en El asco. Thomas Bernhard en San Salvador de Horacio Castellanos Moya«. In: Países en tránsito. Estudios de literatura comprada, hg. von Rogelio Gudea. Bern: Lang 2016. S. 63-80.

Betz, Uwe, und Manfred Mittermayer: »Rezeption und Wirkung. Wirkung auf andere Autoren und Autorinnen«. In: Bernhard-Handbuch: Leben–Werk–Wirkung, hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Stuttgart: Metzler 2018. S. 512-519.

Castellanos Moya, Horacio: El asco. Thomas Bernhard en San Salvador. Barcelona: Tusquets Editores 2007.

Werner, Juliane: »Thomas Bernhard’s Extinction: Variations/Variazioni/Variaciones«. In: Thomas Bernhard’s Afterlives, hg. von Stephen Dowden, Gregor Thuswaldner und Olaf Berwald. London, New York: Bloomsbury [= New Directions in German Studies; Vol. 30] 2020. S. 207-232.