Margo Glantz

Margo Glantz (geb. 1930 in Mexiko-Stadt) zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautor:innen Mexikos. Fasziniert von der Bibliothek ihres Vaters zeichnete sich ihr Interesse für Literatur früh ab. Sie studierte Literatur und Kunstgeschichte an der Universidad Nacional Autónoma de México, an der sie – wie auch an renommierten ausländischen Universitäten, darunter Yale, Harvard und Cambridge – unterrichtete. Sie ist Rockefeller- und Guggenheim-Stipendiatin und wurde als erste Frau Mitglied der Academia Mexicana de la Lengua. Zu ihren vielfach ausgezeichneten Werken zählen Essays und Romane, wie Las genealogías (1981) und Síndrome de naufragios (1984). Besonders interessiert sie die Darstellung von Körpern in ihrer Literatur, so auch in El rastro (2002), ein laut Klappentext musikalisch-medizinisches »Andante mit Variationen«.

Die Cellistin Nora García kehrt für das Begräbnis ihres Ex-Mannes Juan, eines namhaften Pianisten und Komponisten, in ein kleines mexikanisches Dorf zurück (zum Bernhard-Motiv der Rückkehr nach Todesfällen vgl. Horacio Castellanos MoyaPatrick CottrellTim Parks). Nora begegnet dort María, einer alten Bekannten, die sie in Gespräche verwickelt. Nora hört ihr nur teilweise zu, denn sie verliert sich in Erinnerungen an Juan, der einen Herzinfarkt erlitten hat. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stehen das Herz – als Muskel und Metapher – und die Musik, vor allem Glenn Goulds Interpretationen von Bachs Goldbergvariationen. Wie Bernhard besitzt Glantz eine fundierte musikalische Bildung, die sie zum Ausgangspunkt der Romankomposition macht, die dem Aufbau nach einer Bach-Fuge gleicht. Vom Herz- und Musik-Thema spinnt Glantz ein Netz aus Variationen, eine »kreisförmig sich drehende Assoziationsspirale« (Weber 2019: 371), die in den Tod mündet. Das Herz ist ein Symbol für die Liebe, das Herz ist ein Muskel, der 50- bis 100-mal pro Minute schlägt, manchmal mehr, manchmal gar nicht mehr. Musik muss mit Herz gespielt werden. Die Interpretation ist das Herzstück der Musik. Glenn Gould gegen Swjatoslaw Richter. Glenn Gould gegen sich selbst. Seine beiden Interpretationen von Bachs Goldbergvariationen bilden den Rahmen für musikalisch-philosophische Ausführungen; ein Roman also, in dem Glenn Gould zentral steht in der Folge von Bernhards Der Untergeher (1983), in dem der Pianist Wertheimer an Gould, dessen Interpretationskunst er als »glenngenial« (W6: 39) bezeichnet, verzweifelt (vgl. Stephen DixonStephen Downes). Auch Juan verehrte Glenn Gould, er hielt obsessiv Vorträge über dessen Leben und Wirken und musste schließlich, zwar nicht direkt an dieser Obsession, aber doch, sterben.

Für mich, sagte Gould, enthalten die Variationen absolut minderwertige Fragmente (Thomas Bernhard macht etwas Ähnliches in einem seiner Bücher, das ich auf meinem Nachttisch liegen habe und dessen Lektüre mich ungeduldig werden lässt: er diskreditiert die meisten großen Musiker und zeitgenössischen Schriftsteller.) (Wie unterschiedlich sind die beiden Pianisten in ihrer Art, die Musik zu verstehen und zu interpretieren! Richter spielte verschiedenste Werke mit der gleichen Leidenschaft: Er konnte das Außergewöhnliche in ihnen finden, und statt sie zu erniedrigen, erhöhte er sie.) Gould vollendete seine messerscharfe Beobachtung mit folgendem heftigen (und anmaßenden) Satz: Als Werk, nämlich als Konzept, als Ganzes, sind die Goldbergvariationen ein Fehlschlag (das wiederhole ich, in Wirklichkeit stimme ich weder Gould noch Bernhard noch Juan zu.)

Margo Glantz: El rastro, Barcelona: Anagrama 2002, S. 50 (Übers. M. T.).*

Dass Glantz Bernhard nicht nur namentlich erwähnt, sondern tatsächlich gelesen hat, ist unter anderem der fruchtbaren Rezeption seiner Romane in Mexiko (vgl. Sáenz 2018: 496) zu verdanken. So habe sie Bernhard – zusammen mit anderen Autor:innen der Weltliteratur, etwa Verne, Dostojewskij und Kafka – schon als Jugendliche lesen können, wie sie in Interviews bestätigt (vgl. Mendoza Hernández 2020; vgl. Rabí 2016). Miguel Sáenz, Bernhard-Kenner und -Übersetzer, nennt Glantz als ein Beispiel unter den vielen bedeutenden lateinamerikanischen Autor:innen, für die Bernhard stilprägend ist (vgl. Sáenz 2005/06: 160). Dieser Einfluss schlägt sich in El rastro dahingehend nieder, dass die Protagonistin Nora sich daran erinnert, dass Juan erzählt, dass Gould dies oder Schubert jenes gemacht habe, die für Bernhard typische Wiedergabe aus zweiter oder sogar dritter Hand. Glantz verwendet sie nicht nur, um Noras Perspektive von denen der von ihr zitierten Personen abzugrenzen, sondern vermittelt auf diese Art auch die verschiedenen zeitlichen Ebenen, auf denen sich Noras Gedanken bewegen und miteinander verschwimmen (vgl. Weber 2019: 369f.). Eine letzte Gemeinsamkeit: Beide Schriftsteller:innen haben eine Vorliebe für ungewöhnliche Interpunktion und Hervorhebungen. Während sich dies bei Bernhard vor allem in Kursivierungen äußert, verwendet Glantz beständig Klammern, um neue Gedanken einzuführen oder um klarzustellen, wessen Sichtweise gerade wiedergegeben wird, oder um etwas zu betonen.

Viel später verstand ich (fügte Gould hinzu, merkt Juan an) (Juan und (auch) Gould (viel mehr ihre Aussagen) (wenn Juan sie erzählt) tun mir immer noch weh), dass ein musikalisches Werk, egal wie lang es ist, ein – ich möchte Tempo sagen, aber das ist nicht das richtige Wort – , einen bestimmten Pulsschlag, einen unverrückbaren rhythmischen Bezugspunkt haben muss.

Glantz: El rastro, S. 53f. (Übers. M. T.).**

Glantz’ Stil erscheint als eigenständiges Zusammenspiel verschiedener Einflüsse; als ein Ensemble von Eigen- und Fremdinspiration. El rastro hat in dieser Eigenständigkeit viel mit Bernhard gemeinsam. Es ist ein berührender wie schockierender Roman – und eine Hommage an die Musik. 

 

Marie Theissing

Zitate im Original

* »Para mí, dijo Gould, las Variaciones contienen fragmentos magníficos, aunque también fragmentos absolutamente deleznables (Thomas Bernhard hace algo semejante en uno de sus libros que yo tengo sobre mi mesa de luz, su lectura suele impacientarme: descalifica a la mayoría de los grandes músicos y escritores contemporáneos.) (¡Qué diferentes son los dos pianistas, en su manera de entender la música y la interpretación! Richter tocaba con igual apasionamiento obras muy distintas: sabía encontrar en ellas lo que tenían de extraordinario y, en lugar de rebajarlas, las exaltaba.) Gould remataba su tajante observación con esta frase contundente (y presuntuosa): Como obra, como concepto, es decir, como un todo, las Variaciones Goldberg son un fracaso (lo reitero, en verdad no estoy de acuerdo ni con Gould ni con Bernhard ni con Juan.)« (Glantz 2002: 50)

** »Más tarde, comprendí (añadió Gould, acota Juan) (Juan y (también) Gould (más bien sus declaraciones) (cuando las relata Juan) me siguen violentando) que una obra musical, fuera cual fuese su longitud, tenía que sostener un –iba a decir tempo, pero no es la palabra adecuada–, una pulsación específica, un punto de referencia rítmico inamovible.« (Glantz 2002: 53f.)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Der Untergeher [= Werke 6], hg. von Renate Langer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.

Glantz, Margo: El rastro. Barcelona: Anagrama 2002.

Mendoza Hernández, Enrique: »›La vida como una herida absurda‹, dice Margo Glantz en El rastro, novela reeditada por Almadía«. In: Sin Embargo, 20. Mai 2020.

Rabí, Alfonso: »Margo Glantz: La escritora que trata las palabras como cuerpos«. In: OjoPúblico, 25. September 2016.

Sáenz, Miguel: »Bernhard spricht Spanisch«. In: »Ein übersetztes Buch ist wie eine Leiche«. Übersetzer antworten Thomas Bernhard. Erstes Internationales Bernhard-Übersetzer-Symposium, Wien, 28. März 2017. Mattighofen: Korrektur Verlag 2017. S. 77-88.

Sáenz, Miguel: »Thomas Bernhard: Erinnern und Vergessen. Statement anlässlich der Diskussionsveranstaltung ›Thomas Bernhard und Spanien‹. Wien, Instituto Cervantes, 19. Jänner 2006«. In: Thomas Bernhard Jahrbuch 2005/06. S. 155-161.​

Sáenz, Miguel: »Rezeption und Wirkung. Die spanischsprachigen Länder«. In: Bernhard-Handbuch: Leben–Werk–Wirkung, hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Stuttgart: Metzler 2018. S. 496-497.​

Weber, Herwig: »Die literarische Fuge als Bedeutungs(de)konstruktion (2), oder: Das Bewusstsein als dialektisches Spiel. Margo Glantz und ihr ›bernhardscher‹ Roman Die Spur«. In: Mexikanische Literatur (1938-2018) und europäische Moderne, hg. von Norbert Bachleitner. Berlin: Weidler 2019. S. 361-374.