Sam Riviere

Sam Riviere (geboren 1981 in Norwich, Großbritannien) lebt im schottischen Edinburgh, wo er den MikroverlagIf A Leaf Falls Press‹ leitet. Der Schwerpunkt des Verlags mit Fokus auf appropriativem, konzeptuellem Schreiben und Präferenz für limitierte Drucke von hohem ästhetischem Wert, liegt auf zeitgenössischer Poesie. Riviere ist Autor der drei Lyriksammlungen 81 Austerities (2012, dt. 81 Entbehrungen), Kim Kardashian’s Marriage (2015, dt. Kim Kardashians Ehe) und After Fame (2020, dt. Nach dem Ruhm). Nach Safe Mode (2017, dt. Abgesicherter Modus) ist Dead Souls (2021, dt. Tote Seelen) sein zweiter Roman.

 

 

 

Der namenlose Ich-Erzähler, ein Dichter, trifft nach einer Literaturveranstaltung in einer Bar auf Solomon Wiese. Bis in die späten Morgenstunden hinein erzählt Wiese dem Ich-Erzähler die jüngsten Begebenheiten aus seinem Leben, mit vielen Zeitsprüngen und unbekannten Figuren versehen. Wiese galt in der Literaturszene als angehender und vielversprechender Poet, allerdings wird er durch eine neue Plagiatssoftware nun des Diebstahls bezichtigt. Die Nachricht verbreitet sich schnell, Wiese wird aus dem Literaturbetrieb ausgeschlossen und von ehemaligen Bekannten und Vertrauten gemieden. Als Karriereneubeginn versucht er sich als Stand-Up-Speaker, doch auch hier stellen Gelehrte zunehmend eine literarische Aneignung fest, was Solomon Wiese endgültig ins Aus befördert.

»Andererseits sind […] gerade die absurden Gedanken die klarsten Gedanken und die absurdesten die wichtigsten überhaupt.« (Bernhard 2008: 90) Dieses Zitat aus Bernhards Erzählung Ja (1978) stellt Riviere seinem Roman Dead Souls als eines von drei Motti voran (»It is the absurd ideas that are the clearest ideas, and the most absurd ideas are the most important«). Das Motto verspricht nicht zu viel: Zwischen Absurdität, Komik und Obsession ringt ein namenloser Ich-Erzähler und Dichter um (literarische) Identität und Originalität im digitalen Zeitalter. Wider den Plagiatsvorwurf, der ihm gemacht wird, beharrt Wiese auf seinem geistigen Eigentum (vgl. Sauer und Gaddis).

Es war in der Tat meine Geschichte, sagte Solomon Wiese, ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass es immer noch meine Geschichte ist und die Tatsache, dass jemand anders die Geschichte des Baumrinden-Jungen zwanzig oder dreißig Jahre vor meiner Geburt geschrieben und veröffentlicht hat, ist nichts als ein Zuschreibungsunfall. Ein Zufall, der im Grunde irrelevant ist im Hinblick auf meine Verbindung zur Baumrinden-Jungen-Geschichte, welche ich gänzlich als meine eigene Geschichte ansehe.

Sam Riviere: Dead Souls, London: Weidenfeld & Nicolson 2021, S. 204 (Übers. A. S.).*

 

In verschachtelten Sätzen mit Kursivierungen von Reizwörtern, wiederkehrenden Wendungen wie »der Inhaber eines kleinen Verlags« (»the owner of a small publishing company«, Riviere 2021: passim; Übers. A. S.) sowie stetig wechselnden, ineinandergreifenden Erzählperspektiven entsteht ein Bernhard-Pastiche, das zugleich ein Porträt des literarischen und intellektuellen Milieus ist, samt den in ihm wirkenden Strukturen, Netzwerken und Abhängigkeiten. Wieses Erzählstrom eignet eine stark an Bernhard erinnernde Oralität. Rivieres Begeisterung für den Autor gilt besonders der Erzählweise, die er in einem Interview als »aufgebracht und streitsüchtig« (»upset and cantankerous«, Riviere/Shaw 2021: n. p.; Übers. A. S.) bezeichnet. Mit sarkastischem Unterton wird - wie im namensgleichen Werk von Nicolai Gogol - in Dead Souls Gesellschaftskritik geübt, rassistische und sexistische Ideologien werden angegriffen, aber auch Gedankenansätze, die ins Metaphysische gehen und jede sinnvolle Existenz infrage stellen, eingebunden. 

Dead Souls wurde insgesamt positiv besprochen, die eingeschränkte Lesbarkeit, etwa durch fehlende Absätze, aber bisweilen moniert, so von Lily Meyer beim National Public Radio: »Es ist meine persönliche, unerschütterliche Überzeugung, dass das Schreiben ohne Absätze ein Mittelfinger an den Leser ist, der zu Bernhard passt.« (»It is my personal, unshakable belief that writing without paragraphs is a middle finger to the reader, which suits Bernhard«, Meyer 2021: n. p.; Übers. A. S.) Diese Reaktion zog sich lang durch die allgemeine Bernhard-Rezeption in Großbritannien. Verzerrende oder fehlende Übersetzungen sowie ein Publikum, das mit dem ausufernden Stil wenig anzufangen wusste, trugen zur zögerlichen Aufnahme bei, skeptische Kritiken und schlechte Rezensionen in den Zeitungen taten ihr Übriges, besonders bei Theateraufführungen. Bis zu seinem Tod 1989 galt Bernhard als Geheimtipp in intellektuellen Kreisen, von denen er zu Lebzeiten in Großbritannien hauptsächlich gelesen wurde. Später wurden weitere Werke übersetzt und teilweise neu übersetzt, was schlussendlich zu einer breiteren und produktiven Rezeption in Großbritannien führte. 

 

A. S.

Zitate im Original

* »It was, in fact, my story, Solomon Wiese said, I would go as far as to say that it is still my story, and the fact that someone else wrote and published the story of the bark boy twenty or thirty years before I was born is nothing but an accident of attribution. A coincidence that is basically irrelevant, in terms of my connection to the story of the bark boy, which I regard entirely as my own story.« (Riviere 2021: 204)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Ja. In: Erzählungen III [= Werke 13], hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

Riviere, Sam: Dead Souls. London: Weidenfeld & Nicolson 2021.

Meyer, Lily: »›Dead Souls‹ Is A Smart Book, In Some Ways A Good One - Also, It’s Unreadable«. In: National Public Radio, 18. Mai 2021, https://www.npr.org/2021/05/18/997601221/dead-souls-is-a-smart-book-in-some-ways-a-good-one-also-its-unreadable?t=1655052261449 (eingesehen 12. Juni 2022).

Riviere, Sam: »Profound Experience of Poetry with Sam Riviere«, Interview mit Lucy K. Shaw, 25. Mai 2021, https://www.youtube.com/watch?v=csOUJpHnQsQ&t=2819s (eingesehen 12. Juni 2022).