Cees Nooteboom

Cees Nooteboom (geb. 1933 in Den Haag) zählt zu den bedeutendsten niederländischen Autor:innen. Er ist ein Weltenbummler mit Wohnsitzen in Amsterdam und Menorca und ist vor allem für seine Reiseliteratur bekannt. Seine Gesammelten Werke umfassen mittlerweile zehn Bände, zu den bekanntesten zählen Philip en de anderen (1955, dt. Das Paradies ist nebenan/Philip und die anderen, 1958/2003), Allerzielen (1998, dt. Allerseelen, 1999) sowie der Roman Rituelen (1980, dt. Rituale, 1985), der von Herbert Curiël verfilmt wurde. 

Eine junge Frau reist, nachdem sie in den Favelas São Paulos vergewaltigt wurde, mit ihrer Kindheitsfreundin nach Australien. Von klein auf fasziniert von Geschichten über Aborigines sieht sie sich mit deren schockierender politischer Realität konfrontiert. Auf ihrem Weg zu sich selbst arbeitet sie unter anderem als Engel, der in einer Theaterperformance (einer Art Schnitzeljagd durch Perth) gesucht werden soll. Dabei begegnet sie Erik Zondag, dem Protagonisten des zweiten Teils der Handlung. Erik, ein gnadenloser Literaturkritiker, wird zu einer Kur in Tirol gedrängt, der er mit Widerwillen entgegenblickt. Die dann doch fast paradiesisch anmutende Atmosphäre wird durchbrochen, als er in seiner Masseurin den Engel seiner Träume, nämlich die junge Frau, erkennt.

Ausgehend von Miltons Paradise Lost und umrahmt von Pro- und Epilog, in denen der Autor selbst als fiktive Figur auftritt, erschafft Cees Nooteboom eine zweigeteilte Geschichte über geplatzte Kindheitsträume und gefallene Engel. Trotz der romantisch anmutenden Engelsmotivik beherrscht Negativität Nootebooms Werk: Nicht zu Unrecht heißt es Paradijs verloren. Eine nihilistische Weltanschauung, wie sie Bernhard nachgesagt wird, also? So einfach ist es nicht. Klar ist, dass Nooteboom Bernhard zwei Mal gesehen hat, einmal im Frankfurter Hof und einmal im Café Bräunerhof, wo er Bernhard beim Zeitunglesen beobachtet hat. So viel bestätigt er in seinem Werk Tumbas: graven van dichters en denkers (2007; dt. Tumbas: Gräber von Dichtern und Denkern, 2006), in dem er von Besuchen der Gräber seiner literarischen Helden berichtet. Auch Bernhards Grab am Grinzinger Friedhof im 19. Wiener Gemeindebezirk Döbling ist dabei. 

Vor allem Bernhards Theater habe es ihm angetan. Nooteboom reiste sogar ins damalige Ostberlin, um eine Inszenierung des Theatermachers (1984) zu sehen, nach der er folgenden Schluss zog: »Keine Katharsis, keine Reinigung auf der Bühne, kein Ansatz einer Lösung, und trotzdem der merkwürdige Effekt auf den Zuschauer: den ganzen Dreck, mit dem man überspült wurde, empfindet man als eine Reinigung. Ein Stück von Thomas Bernhard ist wie eine Zwangsjacke, die man sich freiwillig anziehen läßt« (Nooteboom 2006: 56; »Geen catharsis, geen zuivering op het toneel, geen enkele vorm van oplossing, en toch dat vreemde effect op de toeschouwer: al het vuil dat door je heen gespoeld is doet aan als een reiniging. Een stuk van Bernhard is een dwangbuis dat je je vrijwillig aan laat trekken«, Nooteboom 2007: 56). Auch in Interviews liebäugelt Nooteboom mit den Schimpffluten Bernhards, wenngleich er den Autor nicht als literarisches Vorbild bezeichnet. Die Österreichbeschimpfungen würden Bernhard jedenfalls zu einem ausdrücklich österreichischen, nicht bloß deutschsprachigen Autor machen (vgl. Greiner 2012). Solche Nationalzuschreibungen sind in der niederländischen Bernhard-Rezeption generell interessant, nicht nur, weil Kritiker:innen gern sinnieren, wie Bernhard die Niederlande beeinflusst hätte, wäre er nicht bloß dort geboren worden (vgl. Licher 1995: 377f.), sondern auch, weil seine Tiraden gegen das Heimatland selten nur auf Österreich bezogen werden; man versucht, sie allgemeingültig zu lesen (vgl. Hupperetz 1995: 379-398). Wundern kann man sich hingegen schon über sie, so wie Nooteboom in seinem Österreich-Reisebericht »Die Hauptstadt von Kakanien«:

Die Landschaft ist grün und lieblich, und so zieht sie vorbei, makellos und ohne bösartige Nebengedanken, vielleicht sogar brav oder scheinheilig in dieser betäubenden Ländlichkeit. Ist das vielleicht der Grund dafür, daß manche österreichische Schriftsteller, wie Handke und Bernhard, ihr Land nicht leiden können?

Cees Nooteboom: Die Dame mit dem Einhorn. Europäische Reisen, übers. von Helga van Beuningen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 120.*

 

Was bedeutet all das für Nootebooms Paradijs verloren? Die Faszination für Bernhards eloquentes Schimpfen wird hier der Literaturkritiker-Figur Erik Zondag verliehen:

Erst noch ein wenig herumlaufen. Und das Café Zentral suchen. Das hatte Arnold ihm geraten, ein schönes, altmodisches österreichisches Café, so ein Ort, den Thomas Bernhard gern aufgesucht hatte, um seine Zeitungen zu lesen. Erik Zondag liebte Thomas Bernhard, nicht nur, weil es in der niederländischen Literatur seit Hermans niemanden mehr gegeben hatte, der so großartig schimpfen konnte, sondern auch weil, wie bei Hermans, diese Wut eher einer bitteren, enttäuschten Liebe entsprang als irgend etwas anderem. Es war vor allem der Stil dieses Schimpfens, der er bewunderte, gebieterische, leidenschaftliche rhetorische Wut, gepaart mit dieser geheimen, meist unsichtbaren Zutat, dem Erbarmen, mit dem der Österreicher über seine Umgebung, sein Land und über sein eigenes, wie er es selbst nannte, ›dem Tode geweihtes Leben‹ geschrieben hatte.

Cees Nooteboom: Paradies verloren, übers. von Helga van Beuningen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 95.**

 

Zondag übt sich über die Bewunderung dieses Stils hinaus auch selbst im Schimpfen: »Literatur war ein Beruf geworden, jeder x-beliebige, der mit wachsendem Widerwillen Niederländisch studiert hatte, fühlte sich bemüßigt, einen Roman zu schreiben« (Nooteboom 2005: 119; »Literatuur was een carrière geworden, elke dwarsstraat die met stijgende tegenzin Nederlands gestudeerd moest zo nodig een roman schrijven«, Nooteboom 2004: 121). Hält sich der Bernhard-Bezug im ersten Teil des Romans – abgesehen von der Enttäuschung über Australien, Bezeichnungen wie Deutsch als »Mistsprache« (Nooteboom 2005: 23; »stinktaal«, Nooteboom 2004: 23) und einige Schachtelsätze – in Grenzen, ist es die Gestalt des Bernhard-Begeisterten Erik Zondag, durch die eine markante Verbindung entsteht – zu Thomas Bernhard als Schimpfinspiration. 

 

M. T. 

Zitate im Original

* »Het landschap is groen en liefelijk, en zo trekt het voorbij, smetteloos en zonder kwaadaardige bijgedachten, misschien wel braaf of schijnheilig in die oorverdovende landelijkheid. Zou het daarom zijn dat sommige Oostenrijkse schrijvers zo’n hekel aan hun land hebben, zoals Handke en Bernhard?« (Nooteboom 1997: 90)

** »Eerst nog wat rondlopen. En het Café Zentral zoeken. Dat had Arnold hem aangeraden. Het moest een mooi ouderwets Oostenrijks café zijn, zo’n plek waar Thomas Bernhard graag kwam om zijn kranten te lezen. Erik Zondag hield van Thomas Bernhard, niet zozeer omdat er sinds Hermans, die woede meer met een bittere, teleurgestelde liefde te maken had dan met iets anders. Het was vooral de stijl van dat schelden die hij bewonderde, de dwingende, hartstochtelijke, retorische woede met dat geheime, meestal onzichtbare ingrediënt van het mededogen, waarmee de Oostenrijkse auteur over zijn omgeving, zijn land, en over zijn eigen, zoals hij het zelf noemde ›aan de dood gewijde leven‹ geschreven had.« (Nooteboom 2004: 97)

Literaturverzeichnis

Greiner, Ulrich: »Cees Nooteboom: ›Schimpfen gehört dazu‹«. In: Die Zeit, 9. August 2012, https://www.zeit.de/2012/33/Literaturkanon-Interview-Ces-Nooteboom/komplettansicht (eingesehen 27. Mai 2022).  

Hupperetz, Karel J.: »Ein kleines, aber aufgeschlossenes Publikum. Die Rezeption der Stücke in den Niederlanden«. In: Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa, hg. von Wolfram Bayer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995. S. 386-403.

Licher, Edmund: »Eine durchweg positive Aufnahme: Die Rezeption der Prosa in den Niederlanden«. In: Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa, hg. von Wolfram Bayer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995. S. 370-385.

Nooteboom, Cees: De filosoof zonder ogen. Europese reizen. Amsterdam, Antwerpen: Uitgeverij De Arbeiderspers 1997.

Nooteboom, Cees: Paradies verloren, übers. von Helga van Beuningen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.

Nooteboom, Cees: Paradijs verloren. Amsterdam, Antwerpen: Atlas 2004.

Nooteboom, Cees: Tumbas: Gräber von Dichtern und Denkern, übers. von Andreas Ecke. München: Schirmer/Mosel 2006.

Nooteboom, Cees: Tumbas: Graven van dichters en denkers. Amsterdam, Antwerpen: Uitgeverij Atlas 2007.