Oliver Rohe

(Eintrag: Frankreich / Libanon)

Olivier Rohe wurde 1972 in Beirut in eine libanesisch-deutsche Familie geboren und lebt heute in Paris. Er ist Autor mehrerer Prosawerke, darunter das kleinformatige, ganz in schwarz gehaltene Défaut d’origine (2003), danach Terrain vague (2005) und Un peuple en petit (2009) sowie Ma dernière création est un piège à taupes (2012), einer fiktionalen Biografie Michail Kalachnikows, des Erfinders des Sturmgewehrs AK-47. Rohes zuletzt erschienener Roman Chant Balnéaire (2023), die Geschichte eines Jugendlichen, der mit seiner Mutter und Schwester aus dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Beirut flieht, wurde mit dem Prix France-Liban ausgezeichnet. Als Gründungsmitglied des Verlags Inculte verfasst Rohe auch Beiträge für Zeitschriften und Magazine, ebenso für den Radiosender France Culture.

Auf einem Flug in sein verhasstes Geburtsland hält der Erzähler von Défaut d’origine (2003), ein gewisser Selber, einen Monolog über seinen langjährigen Freund Roman: über Todeskrankheiten, Identitätssuche und die Schrecken von Mutter-Sohn-Beziehungen, über den Krieg und die Ablehnung von Heimat, »in einem so fanatisch in seine Niedrigkeit verliebten Land, sagte Roman, […] in einem Land, in dem Verbrechen und die Verleugnung von Verbrechen als unerlässliche Hygienemaßnahmen erachtet werden« (»dans un pays si fanatiquement amoureux de sa bassesse disait Roman, […] dans un pays où le crime et la négation du crime sont considérés comme des mesures d’hygiène indispensable«, Rohe 2003: 22; Übers. S. D.). Zunehmend erkennt Selber, dass seine Gedanken bloße Wiedergaben von Romans Gedanken sind, dessen Gedanken sich wiederum als bloße Wiedergabe der Gedanken Thomas Bernhards herausstellen, der ihnen ihre Gedanken vorweggenommen habe. Für Selber ist dies der titelspendende ›défaut d’origine‹, der Ursprungsfehler, nie selbst Quelle der eigenen Gedanken zu sein:

Von nun an und für immer wurde mir der Aspekt der Eventualität entzogen, indem er all diese Romane voll von meinen Ideen geschrieben hat, hat mich Thomas Bernhard schlicht und einfach zum Schweigen oder zur Imitation verurteilt und obwohl es sich in Wirklichkeit um meine eigenen Ideen handelt, bleibt mir nun keine andere Wahl als zwischen diesen beiden gleichermaßen platten und schäbigen Aussichten, die das Schweigen oder die Imitation sind. Das Schweigen oder die Kopie, um genau zu sein. Eine mehr oder weniger dumme Kopie, eine mehr oder weniger bösartige Kopie, aber dennoch eine Kopie. Eine neue Version von Die Ursache oder eine neue Version von Frost oder eine neue Version von Ja zu denken und zu schreiben, birgt an sich weder besonderes Interesse noch größere Schwierigkeiten, sagte Roman, um meine Version von Die Ursache oder von Frost oder von Ja zu schreiben, müsste ich mich nur hinsetzen und mir selbst ein wenig etwas vorlügen.

Oliver Rohe: Défaut d’origine, Paris: Éditions Allia 2003, S. 153 (Übers. S. D.).*

Der Erzähler Selber greift damit eine zentrale Thematik der produktiven Bernhard-Rezeption auf, die extreme Schwierigkeit, sich von Bernhards Einfluss zu lösen, den Akt des Schreibens zu befreien (vgl. Sounac 2010). An der Themenwahl, von Schreibblockaden bis zu Herkunftskomplexen, wie am Bernhard-Stil, der aus jedem »soi-disant« (»sogenannt«) oder »naturellement« (»naturgemäß«) hervorscheint, wird dies deutlich. Als besonders belastend, was den Kampf um Originalität angeht, hat sich die Lektüre von Die Ursache. Eine Andeutung (1975) erwiesen, dem ersten Band aus Bernhards fünfteiliger Autobiografie, in dem sich das Ich ganz der Ursachenforschung hingibt und dabei »Hunderten von Verzweiflungen« (W10: 43) begegnet. In einem »Zustand morbider Niedergeschlagenheit« (»un état d’abattement morbide«) realisiert Selber, »dass eine sehr große Anzahl meiner Gedanken, meiner Beobachtungen und meiner Analysen unverändert in einem Text zum Ausdruck kamen, den ich jedoch nicht geschrieben hatte« (»qu’un très grand nombre de mes pensées, de mes observations et de mes analyses s’exprimaient telles quelles dans un texte que je n’avais pourtant pas écrit«, Rohe 2003: 148; Übers. S. D.). Fast alles gibt sich als unfreiwillige Reproduktion des Vorahmers Bernhard zu erkennen (vgl. Gaddis, Sauer), doch neben dem Schweigen ist das Wieder- und Weitererzählen für die sich auflösende Figur eine alternativlose Wahl. Oliver Rohe reiht sich mit dieser Pastiche in eine Gruppe von französischsprachigen Autor:innen (vgl. Huot, Stakhovitch), deren Bernhard-Stilimitationen durch verzweifelte Ironie und philosophisches Gewicht bestechen.

 

Sebastian Draxl

Zitate im Original

»Dès maintenant et pour toujours la notion d’éventualité m’a été retirée, en écrivant tous ces romans pleins de mes idées Thomas Bernhard m’a tout bonnement condamné soit au silence soit à l’imitation et alors même qu’il s’agit en réalité de mes propres idées je n’ai donc plus qu’à choisir entre ces deux perspectives également plates et sordides que sont le silence ou l’imitation. Le silence ou la copie plus précisément. La copie plus ou moins bête, la copie plus ou moins méchante ; mais la copie tout de même. Penser et écrire une nouvelle version de L’Origine ou une nouvelle version de Gel ou une nouvelle version de Oui ne présente en soi ni intérêt particulier ni difficultés majeures disait Roman, pour écrire ma version de L’Origine ou de Gel ou de Oui il suffirait que je m’assoie et que je me mente un peu à moi-même.« (Rohe 2003: 153).

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Die Autobiographie [= Werke 10], hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

Rohe, Oliver: Défaut d’origine, Paris: Éditions Allia 2003.

Sounac, Frédéric: »Quelques réflexions sur Thomas Bernhard: la musique comme idéal et envers de l’autorité«. In: L’Autorité en littérature: Genèse d’un genre littéraire en Grèce, hg. von Emmanuel Boujou. Rennes: Presses universitaires de Rennes 2010. S. 439-449.