Cyril Huot

Cyril Huot (geb. 1948) ist ein französischer Theater- und Filmdirektor, Schauspieler und Autor. In seinem ersten Roman Lettre à ce monde qui jamais ne répond (2009, dt. Brief an diese Welt, die nie antwortet) tritt er nicht, wie der Titel vermuten lassen könnte, mit Albert Camus brieflich in Kontakt, sondern mit der neuseeländischen Autorin Katherine Mansfield, in die er sich mehr als 80 Jahre nach ihrem Tod verliebte. Huots Dialog mit Bernhard beginnt mit dem 2016 erschienenen Essayband Le rire triomphant des perdants (dt. Das triumphierende Lachen der Verlierer), in dem viermal aus Bernhards Œuvre (Verstörung, Minetti, Auslöschung) zitiert wird, auch ironisch, etwa aus dem Roman Verstörung (1967): »Das Zitieren geht mir auf die Nerven« (Bernhard 2003: 150; vgl. bei Huot 2016a: 102: »Les citations me tapent sur les nerfs«). Der ebenfalls 2016 veröffentlichte Roman Le spectre de Thomas Bernhard (dt. Das Gespenst Thomas Bernhards), rückt Bernhards verheerende Wirkung auf andere Literat:innen in den Mittelpunkt des Geschehens.

[…] und auch heute noch, obwohl er tot ist, obwohl er vollkommen tot und vollkommen begraben ist, auch heute noch werden alle vom Gespenst von T.B. terrorisiert, seit er auf der literarischen Bildfläche auftauchte, seit dem ersten Moment, waren alle vor Ehrfurcht erstarrt, alle haben sich in T.B. verliebt, aber alle wurden gleichzeitig von T.B. vernichtet, er, der behauptet, ein Geschichtenzerstörer zu sein, ein Anekdotenzertrümmerer, doch er, der vielmehr ein Zerstörer angehender Schriftsteller und ein Zertrümmerer durchaus etablierter Schriftsteller ist, und, etabliert oder nicht, alle wurden vollkommen zertrümmert, vollkommen zerstört, vollkommen vernichtet nicht nur durch den Stil T.B.s, auch durch sein Denken, durch den Inhalt seines Denkens, seine Bücher zertrümmerten, zerstörten und vernichteten alle seine Bewunderer, die sich ihres Schreibens rühmten, sie wurden alle ausnahmslos zertrümmert, zerstört, vernichtet vom labyrinthischen Denken und dem repetitiven Endlossatz von T.B. […].

Cyril Huot: Le spectre de Thomas Bernhard, Paris: Tinbad 2016, S. 39f. (Übers. S. D.).*

In Le spectre de Thomas Bernhard hält ein namenloser Ich-Erzähler einen buchlangen Monolog über Thomas Bernhard, adressiert an seinen sterbenden Freund Herman Herrmann, der gänzlich stumm bleibt. In wachsender Sorge, wie man nach dem Tod eines Vorbilds wie Thomas Bernhard überhaupt noch schreiben könne, stellt das Ich Theorien zu Leben und Werk Bernhards auf, um eine eigene Studie über ihn zu verfassen. Die Absicht: Bernhard in literarischer, persönlicher, philosophischer, wissenschaftlicher, politischer und musikalischer Hinsicht zu greifen – ein Universal-Anspruch, der vor allem aus dem Roman Das Kalkwerk (1970) mit Konrads »medizinisch-musikalischphilosophisch-mathematische[r] Arbeit« (Bernhard 2004: 68) bekannt ist.

Huots Ich-Erzähler erschreibt sich auf diese Weise seinen persönlichen Bernhard, so wie Bernhard sich seinen Paul Wittgenstein oder Glenn Gould erschrieben hat. Jahre verbringt der Erzähler damit, tonnenweise Notizen zu allem, was Thomas Bernhard betrifft, zu sammeln (»des tonnes de notes au sujet de T.B.«, Huot 2016: 217; Übers. S. D.), ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Ab einem bestimmten Punkt wird der Erzähler nachts vom Gespenst Thomas Bernhards besucht, das zu verschiedensten Themen Stellung nimmt, Fragen beantwortet und Befehle erteilt:

Diese Nacht kam T.B.s Gespenst mich besuchen, und es sagte mir, Da mein Buch nun abgeschlossen ist, muss ich mich mit ihm auslöschen, mein Buch ist nur da, um all das auszulöschen, was es enthält und mich selbst am Ende dieses Prozesses auszulöschen, der nichts anderes als ein Auslöschungsprozess und Selbstauslöschungsprozess ist, ich muss diesen Prozess der Auslöschung und Selbstauslöschung irgendwie radikal machen, ich muss um jeden Preis zu der Schrift gelangen, die nur dann die endgültige Schrift, die höchste Schrift sein wird, wenn sie letztlich ein höchst radikaler Auslöschungs- und Selbstauslöschungsprozess ist  […], so sagte es mir T.B. diese Nacht.

Huot: Le spectre de Thomas Bernhard, S. 209 (Übers. S. D.).**

 

Der Ich-Erzähler, der bereits mehr als genug Notizen zu Bernhard zusammengetragen hat, gelangt zu dem Schluss, dass er sein Buch nie schreiben wird, da sein Wissen niemals ausreichen kann. Zu aussichtslos ist es, den ganzen Bernhard einfangen zu wollen – und doch zeigt Cyril Huot mit diesem metanarrativen Experiment (vgl. Berwald 2020: 158), wie sehr ein solches Buch zu Thomas Bernhard lohnt.

 

S. D.

Zitate im Original

* »[…] et aujourd’hui encore, bien qu’il soit mort, bien qu’il soit complètement mort et complètement enterré, aujourd’hui encore tous demeurent terrorisés par le spectre de T.B., dès qu’il est apparu sur la scène littéraire, dès le premier instant, tous ont été frappés d’admiration, tous se sont enamourés de T.B., mais tous ont été en même temps anéantis par T.B., lui qui prétend qu’il est un destructeur d’histoires, un démolisseur d’anecdotes, mais lui qui est bien plus encore un destructeur d’écrivains en herbe et un démolisseur d’écrivains pourtant confirmés, et, confirmés ou pas, tous ont été complètement démolis, complètement détruits, complètement anéantis non seulement par le style de T.B., mais aussi par sa pensée, par le contenu de sa pensée, ses livres ont démoli, détruit, anéanti tous ses admirateurs qui se piquent d’écrire, ils ont tous sans exception été démolis, détruits, anéantis par la pensée labyrinthique et par la phrase répétitive infinie de T.B. […].« (Huot 2016: 39f.)

** »Cette nuit, le spectre de T.B. est venu me visiter, et il m’a dit, Mon livre terminé, je dois m‘anéantir avec lui, mon livre n’est là que pour anéantir tout ce qu’il contient et pour m’anéantir moi-même à l’issue de ce processus qui n’est rien d’autre qu’un processus d’anéantissement et d’auto-anéantissement, je dois faire en quelque sorte que ce processus d’anéantissement et d’auto-anéantissement soit radical, il faut en arriver coûte que coûte à l’écrit qui ne sera l’écrit final, l’écrit suprême, que s’il est enfin un processus hautement radical d’anéantissement et d’auto-anéantissement, […] ainsi m’a dit T.B. cette nuit.« (Huot 2016: 209)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Verstörung [= Werke 2], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. 

Bernhard, Thomas: Das Kalkwerk [= Werke 3], hg. von Renate Langer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 

Berwald, Olaf: »Immersions into Bernhard’s Works in Recent Francophone Literature«. In: Thomas Bernhard’s Afterlives, hg. von Stephen Dowden, Gregor Thuswaldner, und Olaf Berwald. New York: Bloomsbury [= New Directions in German Studies; vol. 30] 2020, S. 157-167.

Huot, Cyril: Le rire triomphant des perdants: journal de guerre. Paris: Tinbad 2016a.

Huot, Cyril: Le spectre de Thomas Bernhard. Paris: Tinbad 2016.