Hervé Guibert
Hervé Guibert
Hervé Guibert (1955-1991) war neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit – seit 1977 wurden Romane, Erzählungen, Essays und autobiographischen Schriften veröffentlicht – auch als Photograph erfolgreich. Er reiste viel und verkehrte in Pariser Künstler:innen- und Intellektuellenkreisen, zu denen auch der Philosoph Michel Foucault gehörte. Im Jahr 1988 wurde Guibert, zeitgleich mit seinem langjährigen Partner Thierry Jouno, positiv auf HIV getestet. In seiner autobiographischen Trilogie verarbeitete er seinen gesundheitlichen Verfall literarisch und sprach dabei auch ganz explizit über Foucaults Aids-Erkrankung, was für erheblichen Aufruhr in den französischen Medien sorgte. Im Dezember 1991 unternahm Guibert einen Suizidversuch, an dessen Folgen er zwei Wochen später im Hôpital Antoine-Béclère in Clamart verstarb.
In seinem autobiographischen Text À l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie erzählt Hervé Guibert diaristisch in 100 Kapiteln seine letzten Lebensjahre. Sie sind stark von seiner voranschreitenden Aids-Erkrankung geprägt und von der ständigen Frage überschattet, ob es eine Heilung geben kann, und wenn ja, wann es für diese zu spät sein wird. Guiberts Bekanntenkreis besteht aus Leidensgenossen. Sein Partner Jules, der mit Thierry Jouno identifiziert werden kann, und sein enger Freund Muzil, der vermutlich Michel Foucault darstellt, spielen eine zentrale Rolle. Und dann ist da noch Bill, ein befreundeter Arzt, der Guiberts Hoffnung auf einen Impfstoff schürt und so zu jenem titelgebenden »Freund [wird], der mir das Leben nicht gerettet hat« (Guibert 1991: 2; »ami, qui ne m’a pas sauvé la vie«, Guibert 1990: 2). Auch »T.B.« begleitet Guibert, der gerade im Begriff ist, den Roman Verstörung (1967) zu lesen. Die Faszination für Bernhards Schreiben befällt ihn nach eigenen Angaben wie eine Metastase:
(…) parallel zu HIV hat sich also die Bernhardsche Metastase mit Höchstgeschwindigkeit in meinem Gewebe und meinen vitalen Schreibreflexen ausgebreitet, sie phagozytiert mein Schreiben, absorbiert es, nimmt es gefangen, zerstört all seine Natürlichkeit und eigene Prägung, um ihre verwüstende Herrschaft darauf auszudehnen.
Hervé Guibert: Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat, übers. von Hinrich Schmidt-Henkel, Reinbek: Rowohlt 1993, S. 207.*
À l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie gilt als ein hervorstechendes Beispiel der produktiven Thomas Bernhard-Rezeption (vgl. Froehlicher 2012; Gignoux 2010; Weiser 2011; Wagner 2004). Auf Seite 8 taucht als erste Anspielung die Abkürzung »T.B.« auf, in einem Satz, der bereits Aufschluss darüber gibt, wie der Autor Bernhard gegenüber eingestellt ist: »[I]ch habe aufgehört T.B. zu lesen, um die Vergiftung zu stoppen.« (Guibert 1993: S. 8; »T.B. je me suis arrêté de le lire pour stopper l’empoisonnement.«, Guibert 1990: 12) In diesen ersten Seiten sind die beiden Buchstaben noch eine Abkürzung unter vielen: AZT, T4, HIV, alles gängige Begriffe, wenn es um Aids geht. Dass T.B. in diesem Kontext an die Kurzform von Tuberkulose denken lässt, die Krankheit, mit der Thomas Bernhard in seinem Leben zu kämpfen hatte, leitet direkt in den Vergleich, der, neben Guiberts immer wieder enttäuschter Hoffnung auf ein Heilmittel, das Hauptthema des Buches darstellt: die Bernhardsche Metastase (»métastase bernhardienne«, Guibert 1990: 232) und das HI-Virus, das Hervé befallen hat.
Thomas Bernhard ist für Guibert ein Schriftsteller, mit dem er sich und sein Werk vergleichen kann, aber auch ein Leidensgenosse, der in seiner ebenfalls autobiographischen Erzählung Der Atem (1978) seinen Leidensweg schildert. In beiden Texten findet sich das Thema der ärztlichen Inkompetenz, das im 55. Kapitel von Guiberts Tagebuch thematisch auch an die Steinhof-Internierung Paul Wittgensteins in Wittgensteins Neffe (1982) anschließt: »immer noch Bewohner dieser Anstalt, dieser Zitadelle des Unglücks« (Guibert 1993: 165; »encore pensionnaire de cette académie, de cette citadelle du malheur«, Guibert 1990: 172). Mit dem Fortschreiten von Guiberts Krankheit nehmen die intertextuellen Bernhard-Bezüge zu, seine geschwächte Immunabwehr kann sich gegen diese ›Vergiftung‹ immer schlechter wehren. Nicht nur Bernhards Name fällt immer öfter, auch die Satzstrukturen dehnen sich zu Seitenfüllern; als Höhepunkt schmäht Guibert im 73. Kapitel Bernhard ganz explizit:
Ich haßte diesen Thomas Bernhard, er war unbestreitbar ein weit besserer Schriftsteller als ich, und doch, er war nichts als ein Schlittschuhfahrer, ein Fummler, ein zeilenschindender Nörgler, ein Verzapfer syllogistischen Platitüdensalates, ein mottenkranker Unentjungferter, ein schlüpfriger Windeladvokat, ein Salzburger Korinthen kackender Schmähsabberer, ein Prahlhans, der alles besser kann als alle anderen, radfahren, Bücher schreiben, Nägel einschlagen, Geige spielen, singen, philosophieren und von der Gehässigkeit in den Mund leben, ein ungehobelter Bär, der sich mit seinen Schrullen zugrunde richtet, da er stets dieselben Pfotenhiebe austeilt, mit immer derselben dicken, schweren, dickköpfigen niederländischen Bauernlümmelpfote, dieselben Hiebe nach immer denselben Hirngespinsten, dem Land seiner Geburt und dessen Patrioten, den Nazis und den Sozialisten, den Nonnen, den Theatermachern, allen anderen Schriftstellern und mit Vorliebe den guten, genauso nach den Kritikern, die seine Bücher beweihräucherten oder verrissen (...).
Guibert: Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat, S. 206.**
Zwar schimpft er unter Verwendung bernhardesker Neologismen auf sein Vorbild – so erinnert die Bezeichnung »Verzapfer syllogistischen Platitüdensalates« (Guibert 1993: 206; »un faiseur de lapalissalades syllogistiques«, Guibert 1990: 230) deutlich daran, wie Bernhards Figur Murau in Auslöschung. Ein Zerfall (1986) Goethe als »Insekten- und Aphorismensammler mit seinem philosophischen Vogerlsalat« (Bernhard 2009: 449f.) bezeichnet –, doch geht aus all den Schmähungen vor allem eines hervor: wie eingehend Guiberts Bernhard-Lektüren waren. Ein Kind (1982), Der Keller. Eine Entziehung (1976) und Die Ursache. Eine Andeutung (1975), auf die hier angespielt wird, sind Teil von Bernhards autobiographischer Pentalogie, die nicht nur in Guiberts Werk, sondern generell in Frankreich in den 1980er Jahren große Resonanz fand (vgl. Weinmann 2018).
Hervé Guibert gesteht sehr offen, welche Wirkung die Lektüre von Thomas Bernhards Texten auf ihn und sein Schreiben hatte. Die Suche nach einem »literarischen Impfstoff« (Guibert 1993: 212; »vaccin littéraire«, Guibert 1990: 233) bleibt in seinem Fall genauso erfolglos wie die Suche nach einem Heilmittel gegen seine Aids-Erkrankung.
Magdalena Kanov
Zitate im Original
* »(…) parallèlement donc au virus HIV la métastase bernhardienne s’est propagée à la vitesse grand V dans mes tissus et mes réflexes vitaux d’écriture, elle la phagocyte, elle l’absorbe, la captive, en détruit tout naturel et toute personnalité pour étendre sur elle sa domination ravageuse.« (Guibert 1990: 232)
** »Je haïssais ce Thomas Bernhard, il était indéniablement bien meilleur écrivain que moi, et pourtant, ce n’était qu’un patineur, un tricoteur, un ratiocineur qui tirait à la ligne, un faiseur de la palissalades syllogistiques, un puceau tubard, un tergiverseur noyeur de poisson, un diatribaveur enculeur de mouches salzbourgeoises, un vantard qui faisait tout mieux que tout le monde, du vélo, des livres, de l’enfonçage de clous, du violon, du chant, de la philo et de la hargne à la petite semaine, un ours mal léché ravagé par les tics à force d’assener les mêmes coups de patte, de sa grosse lourde patte têtue de péquenot néerlandais, sur les mêmes chimères, son pays natal et ses patriotes, les nazis et les socialistes, les sœurs, les théâtreux, tous les autres écrivains et spécialement les bons, comme les critiques littéraires qui encensaient ou méprisaient ses livres (…).« (Guibert 1990: 231)
Literaturverzeichnis
Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall [= Werke 9], hg. von Hans Höller. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.
Froehlicher, Clément: »Thomas Bernhard dans À l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie ou l’intertextualité mise en scène«. In: @nalyses 7 (2012), Nr. 2 (Frühjahr-Sommer). S. 107-125.
Gignoux, Anne Claire: »La maladie mortelle: Le neuveau de Wittgenstein de Thomas Bernhard et À l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie d’Herve Guibert«. In: The Romanic Review 101 (2010), Nr. 3. S. 395-407.
Guibert, Hervé: À l’ami qui ne m’a pas sauvé la vie. Paris: Gallimard 1990.
Guibert, Hervé: Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat, übers. von Hinrich Schmidt-Henkel, Reinbek: Rowohlt 1993.
Wagner, Walter: »Hervé Guibert und Thomas Bernhard: eine Wahlverwandtschaft«. In: Thomas Bernhard Jahrbuch 2004. S. 117-134.
Weinmann, Ute: »Frankreich«. In: Bernhard-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Stuttgart: Metzler 2018. S. 491-494.
Weiser, Jutta: »Literarische Abwehr. Strategien der Immunisierung bei Thomas Bernhard und Hervé Guibert«. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 43 (2011), H. 1. S. 179-198.