Andrzej Tichý

Andrzej Tichý kam 1978 in Prag zur Welt und übersiedelte mit seinen Eltern im Alter von drei Jahren nach Malmö in Schweden. Durch seine seit 2005 veröffentlichten Romane und Kurzgeschichten gilt er als eine der wichtigsten Stimmen seiner Generation, deren Hoffnungen und Sorgen im gegenwärtigen Schweden er, versetzt mit Malmö-Slang, einfängt.

In seinem fünften Roman Eländet (2016, dt. Das Elend) – von Nichola Smalley unter dem Titel Wretchedness (2020) ins Englische übersetzt – begegnen wir dem Cellisten Cody, der am Kanal im Malmöer Stadtteil Slussen auf Orchesterkolleg:innen wartet. Als er von einem jungen Obdachlosen angesprochen wird, der ihn um eine Spende bittet, überkommt Cody ein Lauffeuer an Erinnerungen und Stimmen: Er erkennt in dem drogensüchtigen jungen Mann eine längst vergangene Version seiner selbst.

Im Schwedischen existiert das Wort ›Ortlosigkeit‹ nicht, zumindest nicht im Wörterbuch. Dabei setzt sich Andrezj Tichýs Roman Eländet intensiv mit diesem Begriff auseinander. Welchen Platz hat man in der schwedischen Gesellschaft, wenn man schon optisch nicht dem schwedischen Musterbild entspricht? Wenn man sich nicht mit idyllischen Naturlandschaften identifiziert, sondern mit brennenden Autos und den auf Wiesen ruhenden Junkies Malmös, die gleichsam das inoffizielle Wahrzeichen der Stadt darstellen. Ein in diesem Sinne Ortloser ist der Immigrantensohn Cody, der sich keiner Gesellschaftsschicht zuordnen kann, außer jener der »myslickade aborter« (Tichý 2016: 25, dt. missglückten Abtreibungen). Seine Kindheit war vor allem geprägt von Gruppenschlägereien und Drogenexzessen in Begleitung seiner Freundesgruppe, immer unterwegs an einen noch hoffnungsloseren Ort. Was andere als »hem«, als Zuhause, bezeichnen, war für den Protagonisten mehr »boende« (Tichý 2016: 215), also Unterbringung. Im Rausch malten sich die Jugendlichen in blumigen Bildern die Zukunft aus; Visionen, die für kaum jemanden außer Cody in Erfüllung gehen würden. Auch später, als erfolgreicher Cellist, verlässt ihn dieses Gefühl der Ortlosigkeit nicht, dieses Schwanken zwischen der Enttäuschung über die eigene Realität und der Vorstellung, an einem anderen Ort glücklicher zu sein.

Narratologisch nah an Bernhard ist Tichýs handlungsarmes Erzählen von Vergangenem, das endet, wo es angefangen hat. Jenseits konventioneller Handlungsstränge fokussieren sich beide auf die Sprache, wobei Tichý den hochsprachlichen Diskurs durch umgangssprachliche schwedische und polnische Ausdrücke wie ›bror‹ oder ›bratku‹ (dt. Bruder) durchbricht; Formulierungen, die das Milieu seiner Figuren glaubwürdig transportieren, die Figuren greifbar machen. Die Modi, die bei Bernhard eine sogartige Komposition bilden – Wiederholungen, Verschachtelungen, Abschweifungen und Einschiebungen – treibt Tichý weiter: So transferiert er mit Zeitsprüngen Vergangenes in die Gegenwart und schafft zusätzliche Verwirrung, indem er den Helden Cody in der ersten, zweiten und dritten Person von, mit und über sich sprechen lässt. Aus dem sinfonisch-realistischen Klang, den Tichý über Seiten hinweg aufbaut, wird durch bernhardeske Störmomente eine Kakophonie, »das Höchste und das Widerwärtigste gleichzeitig« (Bernhard 2008: 50).

Einen Hinweis auf den österreichischen Schriftsteller und zugleich einen Kommentar zur eigenen Form liefert ein Gespräch zwischen Tichý und seiner Übersetzerin: In Bezug auf die Aussage des englischen Autors Will Ashon, beim Roman Eländet handle es sich um ein (un)heiliges Zusammentreffen von Thomas Bernhard und der kontroversiellen Hardcore Hip Hop-Gruppe Geto Boys (»a holy/unholy meeting of Thomas Bernhard and The Geto Boys«), antwortet Tichý, die beiden hätten, ob in Österreich oder Houston, Texas, »etwas gemeinsam, wie vielleicht: Wut. Dieser gemeinsame Nenner ist analog zur Form, wenn das Sinn ergibt?« (»[…] something in common, like maybe: rage. This common denominator is analogous to form, if that makes sense?«, Tichý/Smalley 2020, Übers. H. S.).

[…] mein Vater sagte mir jetzt seien wir im Paradies angekommen, und ich wusste es war das reichste Land der Welt, aber in der Zeitung schrieben sie es war eine menschliche Abfalldeponie und es war eine Katastrophe, und keine Ahnung, ich glaub wir sind 1982 dort hingezogen, aber es war 1985 als sie menschliche Abfalldeponie geschrieben haben, und ich glaub es muss eine große Sache gewesen sein, und was kannst du machen auf einer Abfalldeponie, naja du machst nichts und du machst Chaos, das wars dann auch, und dann lachst du über den erwachsenen Sohn, der vor dir zusammenbricht und weint aus Frustration und irgendwie fehlgeleitetem Mitgefühl, oder was soll ich sagen, nichts und Chaos, wie gesagt, mehr war da nicht, es war nichts, nichts war irgendwas, und was noch etwas war, war Chaos, es roch nach Alkohol, Katzenpisse, Schweiß und vollen Aschenbechern, das was etwas war, das tat weh, es war das Lachen, der Fakt, dass du wusstest, dass es irgendeine Art Waffe war, die es dir ermöglichte über alles zu lachen und zu sagen es ist alles scheißegal, Bruder, als ob’s mich kümmern würde, es gibt nichts was du tun könntest das schlimmer wär als das was mich jede Nacht Zuhause erwartet […].

Andrzej Tichý: Eländet, Stockholm: Albert Bonniers Förlag 2016, S. 58f. (Übers. H. S.)*

 

H. S.

Zitate im Original

* »[…] min pappa hade ju sagt till mig att nu har vi kommit till paradiset, och jag visste att det var världens rikaste land, men i tidningen skrev de att det var en mänslkig soptipp och att det var katastrof och jag vet inte, det var 1982 som vi flyttade dit tror jag, men det var 1985 när de skrev mänsklig soptipp, och då var det väl det då, och det var ingenting med de, och vad gör man på en sopptip, jo, man gör ingenting och man gör kaos, ungefär så, och sen skrattar man åt de vuxna son bryter ihop inför en och gråter av frustration och liksom felkanaliserad empati, eller vad man ska säga, ingenting och kaos, som sagt, det car inget mer med det, det var ingenting, ingenting var någonting, och det som ändå var någonting, det var kaos, det luktade sprit, kattpiss, svett och fulla askfat, det som var någonting, det gjorde ont, det var det där skrattet, att man visste att det var en sort vapen, detta att kunna skratta åt allt och säga att vi skiter i allt, bror, jag bryr mig tji om någontnting, det finns ingenting du kan göra mot mig som är värre än det som jag går hemtill varje kväll […].« (Tichý 2016: 58f.)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Alte Meister. Komödie [= Werke 8], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. 

Tichý, Andrzej: Eländet. Stockholm: Albert Bonniers Förlag 2016.

Tichý, Andrzej, und Nichola Smalley: »In Conversation. Andrzej Tichý & Nichola Smalley«. In: Granta, 17. Juni 2020 https://granta.com/in-conversation-tichy-smalley/ (eingesehen 2. April 2022).