Félix de Azúa

Félix de Azúa, geboren 1944 in Barcelona, ist ein renommierter spanischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. De Azúa hat Philosophie, Publizistik und Politikwissenschaft studiert, lehrte unter anderem in Oxford, Barcelona und San Sebastián. Neben den Romanen Última lección (1981) und Diario de un hombre humillado (1986) ist er auch Autor des hier vorgestellten Historia de un idiota contada por él mismo o El contenido de la felicidad (1986; dt. Geschichte eines Idioten, von ihm selbst erzählt, oder Vom Wesen des Glücks, 1994).

Darin gibt ein namenloser Ich-Erzähler episodenhaft Einblicke in sein Leben, das er nur einem Sinn und Zweck untergeordnet hat: dem Suchen und Finden von Glück. Chronologisch gibt er die einzelnen Stationen seines Werdegangs wieder, doch weder die Schulzeit, noch das Leben als Student oder als Soldat, nicht einmal die ersten amourösen Erfahrungen lösen ihre Versprechen ein. Ein »Idiot« – wie es im Titel heißt – ist der Erzähler insofern, als er nicht bemerkt, dass das große Glück sich ihm umso mehr entzieht, je eifriger er es verfolgt, während er die kleinen Glücksmomente übersieht, die ihm auf der Suche begegnen – in dieser Hinsicht lässt sich der Roman auch als Parodie auf das Genre der Autobiografie lesen (vgl. Schraibman 1988: 635). Den Gestus des verzweifelten Misanthropen nimmt man de Azúas Ich-Erzähler nur bedingt ab, da er sich sowohl physisch als auch psychisch guter Gesundheit zu erfreuen scheint und bei seinen Mitmenschen eher auf Zuneigung als auf Ablehnung stößt. Er beharrt indes darauf, sich vor der Welt schützen zu müssen, die er als gemein und gefährlich wahrnimmt, darunter »die sogenannten Wissenschaftler (...) einer halbversklavten und verblödeten Bevölkerung« (de Azúa 1994: 64; »los llamados científicos (...) de una población semiesclavizada y embrutecida«, de Azúa 1986: 59), die durch ihren akademischen Hintergrund schon verloren sind: »Die spanische Universität kann allein deshalb, weil sie spanisch ist, wohl kaum eine Universität sein« (de Azúa 1994: 19; »La Universidad española, por el mero hecho de ser española, mal podía ser una Universidad«, de Azúa 1986: 19). Auch abseits von Spanien ist es nicht besser um den Zeitgeist und die ihm Ausgelieferten bestellt, zu denen das Ich sich selbst nicht zählt:

Ich glaube behaupten zu können, daß mir, nachdem ich die Phase meiner Initiation hinter mir gelassen hatte, weder irgendein Kinderparadies noch irgendeine von der Gesellschaft verordnete glückliche Kindheit etwas anhaben konnten. Dagegen war ich für immer immun. Dies ist ein beachtlicher Vorteil in einer Zeit, in der die Kommerzialisierung des kindlichen Glücks derart vorangetrieben wird, daß sie mittlerweile gigantische Ausmaße angenommen hat. Die Verkindlichungsmaßnahmen, die so mächtige Staaten wie die USA ergreifen, haben einen beträchtlichen BIOLOGISCHEN Erfolg gehabt. Das geistige Niveau der westlichen Bevölkerung entspricht augenblicklich dem eines acht oder neun Jahre alten Kindes. Das Gebrechen der kindlichen Glückseligkeit hat sich inzwischen des Sports bemächtigt und diesen sogar in ein Staatsgeschäft verwandelt, wie es nur mit der Herstellung nuklearer Waffen vergleichbar ist; die moralischen Ansprüche der nicht existenten Erwachsenen hat es auf Kindergartenniveau reduziert. So ist es nicht verwunderlich, daß heutzutage die Menschen der Industrieländer praktisch Analphabeten sind; wie bei Kindern ist ihr Hirn vollgestopft mit einer ungeheuren Menge an nutzloser Information.

Félix de Azúa: Geschichte eines Idioten, von ihm selbst erzählt, oder Vom Wesen des Glücks, übers. von Christiane Rasche, Frankfurt am Main: Eichborn 1994, S. 16f.*

Wenngleich er nie explizit erwähnt wird, so besteht doch kein Zweifel daran, dass der Roman auch im Zeichen Thomas Bernhards steht, wenn man etwa die Berufs- und Bevölkerungsgruppen übergreifenden Diffamierungen und auffälligen Hervorhebungsstrategien betrachtet. Der Titel Historia de un idiota contada por él mismo verweist auf einen wiederkehrenden Topos im Werk Bernhards: den des Narren, der unter Narrenfreiheit steht und unverhohlen Dinge sagen oder tun kann, ohne dafür belangt zu werden. »Der eigentliche Herrscher, der Idiot…« (Fleischmann 1986: 17:36), murmelt Bernhard, als er im Prado an einem Velázquez-Porträt eines Hofnarren vorbeigeht. Bernhard hat literarisch wie journalistisch mit dieser Rolle gespielt und aus dieser Deckung heraus das aufzeigen können, was viele Landsleute lieber verdrängt hätten, und was ihm gerade in Spanien seit Beginn der 1980er Jahre eine so große Leser:innenschaft eingebracht hat; die politischen und kulturellen Parallelen des Post-Franco-Spaniens mit dem Nachkriegsösterreich, vor allem das Fehlen einer klaren Zäsur zwischen dem totalitär-faschistischen und dem modernen demokratischen System (vgl. Scharm 2020: 140f.) ermöglicht eine stellvertretende Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Recht verwunderlich ist allerdings das Österreichbild, das de Azúa 1978 in seiner Besprechung des gerade erschienenen Trastorno (Verstörung, 1967) seinem Lesepublikum vermittelt:  

Wenn Sie die germanische Seele ein wenig verstehen wollen, lesen Sie diesen Roman. Zwar stimmt es, dass Bernhard Österreicher ist, und das legt ein starkes soziologisches Korrektiv auf. Die Österreicher sind, wie die Bayern, katholisch und fast südländisch (die Deutschen sprechen im Allgemeinen von den Österreichern wie wir von den Marokkanern), aber viel ärmer. Österreich ist arm und billig, wenig industrialisiert und mit einer Vorliebe für das Akkordeon. (...) Bernhard erzählt uns somit von der mitteleuropäischen Seele mit viel mehr Witz als die authentischen Deutschen, die reinen, die, die keine Spuren von muslimischem, jüdischem oder levantinischem Blut in ihrem Kreislauf haben. Und deshalb ist Bernhards hervorstechendste Eigenschaft sein Sinn für Humor. Es ist allerdings ein mitteleuropäischer Humor. Der furchterregende Humor eines Kafka, Kubin oder Musil, ein dunkler Humor.

Félix de Azúa: »Música para tullidos«, in: Lecturas compulsivas: Una invitación, Barcelona: Anagrama 1998, S. 129-131, hier S. 130 (Übers. S. D.).**

Von Bernhards dunklem Humor bleibt das Land Spanien, das ihm mehr als einmal Zufluchtsort war, im Wesentlichen verschont: »[E]s ist mir sehr angenehm. Spanien ist das einzige Land, das mir nicht spanisch vorkommt« (W22.2: 200).

 

 

Felix Huth

Zitate im Original

* »Creo poder afirmar que ningún paraíso infantil o infancia feliz institucional pudo ya atacarme, tras el paso por la iniciación; quedé inmunizado para siempre. Es esta una ventaja digna de consideración en unos tiempos en los que la venta de felicidad infantil se ha incrementado hasta alcanzar proporciones colosales; los proyectos de infantilización que promueven estados muy poderosos, como el norteamericano, han tenido un éxito BIOLÓGICO considerable y la edad actual de las poblaciones occidentales ronda los ocho o nueve años intelectuales. La lacra de la felicidad infantil ha extendido el deporte hasta convertirlo en un negocio de estado, sólo comparable con la fabricación de armamento nuclear; y ha rebajado las exigencias morales de los inexistentes adultos a niveles de jardín de infancia. No es de extrañar que en la actualidad la población desarrollada sea prácticamente analfabeta, a la manera de los niños, es decir, con una cantidad ingente de información inútil ocupando la totalidad del cerebro.« (de Azúa 1986: 16)

** »Si quiere usted entender un poquito el alma germana, lea esta novela. Bien es verdad que Bernhard es austríaco, y eso impone un severo correctivo sociológico. Los austríacos, como los bávaros, son católicos y casi sureños (en general los alemanes hablan de los austríacos como nosotros de los marroquíes), pero mucho más pobres. Austria es pobre y barata, poco industrializada y aficionada al acordeón. (...) Así que Bernhard nos habla del alma centroeuropea con mucha más gracia que los auténticos alemanes, los puros, los que no tienen huellas de sangre musulmana, judía o levantina en el sistema circulatorio. Y, por eso, lo más sobresaliente de Bernhard es su sentido del humor. Se trana, de todos modos, de humor centroeuropeo. Temible humor de Kafka, Kubin o Musil, humor tenebroso.« (de Azúa 1998: 130)

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: »Die Ursache bin ich selbst«, Interview mit Krista Fleischmann (1986). In: Journalistisches, Reden, Interviews [= Werke 22.2], hg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Berlin: Suhrkamp 2015.

De Azúa, Félix: Historia de un idiota contada por él mismo o El contenido de la felicidad. Barcelona: Anagrama 1986.

De Azúa, Félix: Geschichte eines Idioten, von ihm selbst erzählt oder Vom Wesen des Glücks, übers. von Christiane Rasche. Frankfurt am Main: Eichborn 1994.

De Azúa, Félix: »Música para tullidos«. In: Lecturas compulsivas: Una invitación. Barcelona: Anagrama 1998. S. 129-131. [Zuerst in: Triunfo, 6. Mai 1978.]

Sáenz, Miguel: »Rezeption und Wirkung. Die spanischsprachigen Länder«. In: Bernhard-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung, hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Stuttgart: Metzler 2018. S. 496-497.

Scharm, Heike: »Thomas Bernhard, a Writer for Spain«. In: Thomas Bernhard’s Afterlives, hg. von Stephen Dowden, Gregor Thuswaldner und Olaf Berwald. London, New York: Bloomsbury [= New Directions in German Studies; Vol. 30] 2020. S. 137-156.

Schraibman, Joseph: »Historia de un idiota contada por él mismo o El contenido de la felicidad by Félix de Azúa«. In: World Literature Today 62 (1988), Nr. 4, Raja Rao: 1988. S. 635.