Fernando Arrabal

Eintrag: Frankreich / Spanien

Die sich gegen Ende der 1980er Jahre zu einer veritablen »viennomanie« (Weinmann 2000: 170) auswachsende Bernhard-Begeisterung des französischen Theater- und Lesepublikums wurde stark auf die Stellvertreterkapazität von Thomas Bernhards Werk für Zustände anderenorts zurückgeführt. So konnte vor allem der in der französischen Berichterstattung sehr präsente Heldenplatz-Skandal als Substitut für die Auseinandersetzung mit der eigenen Vichy-Geschichte dienen. Diesbezüglich bezweifelt der Journalist Guy Dumur im Nouvel Observateur, ob, wenn ein französischer Autor Republikaner, Vichyisten, Gaullisten und Sozialisten derart durcheinanderwirbeln würde wie Bernhard es in Heldenplatz tue, jemand lachen würde, und versichert, dass es kein solches Stück in Frankreich gebe, und falls doch, es nicht gespielt werden würde (»Je ne suis pas sûr qu’on rirait autant si un auteur français s’en prenait à la France lepéniste, en y englobant pêle-mêle ›républicains‹, vichystes, gaullistes et socialistes. Qu’on se rassure: cette pièce n’existe pas et, si oui, elle ne serait pas jouée«; Dumur 1991: n. p.)

Übersehen wurde dabei ein kleiner, aber radikaler Versuch des 1932 in Melilla geborenen spanisch-französischen Schriftstellers und Filmemachers Fernando Arrabal, der schon für antifrankistische Äußerungen 1967 wegen Blasphemie und Verleumdung während eines Spanienurlaubs inhaftiert wurde, was Protestbekundungen unter anderem von Beckett, Mauriac, Ionesco und Miller nach sich gezogen hat. Mit dem erklärten Ziel, Menschen aus ihrer Vergangenheitsbeschönigung aufzurütteln, veröffentlicht Arrabal am 10. Oktober 1989 – noch im Jahr, bevor Heldenplatz von Claude Porcell als Place des Héros ins Französische übersetzt wird – in der Zeitschrift L’Idiot International seine »Beleidigung Frankreichs« (»Insulte à la France«):

Frankreich ist eine seelen- und kulturlose Kloake.

Frankreich verbreitet in ganz Europa seinen penetranten Gestank.

Frankreich ist ein bösartiges Theater, verlottert, vermodert und verkommen.

Frankreich wird von einer Schar schamloser, sich selbst verhasster Schurken vertreten.

Frankreich zählt 55 Millionen Esel, die nichts anderes können, als lauthals nach einem bronzenen Anführer zu schreien, der mit eiserner Hand regiert.

Heutzutage gibt es mehr Faschisten in Paris als 1942.

Fernando Arrabal: »Insulte à la France«, in: L’Idiot International, 10. Oktober 1989 (Übers. J. W.).

Arrabal kombiniert in der »Beleidigung Frankreichs« Bernhard-Versatzstücke nach einem einfachen Muster, ›Österreich‹ wird durch ›Frankreich‹ ersetzt, ›Hitler‹ durch ›Pétain‹ usw. Arrabal verdichtet dabei jene vielzitierten Passagen aus Bernhards Heldenplatz, die – vor der Premiere der Presse zugespielt (vgl. Burgtheater 1989) – in Österreich eine aufgeheizte medien- und parteienübergreifende Debatte auslösten, zur eigenen Vergangenheit und mehr noch zur Kunstfreiheit und ihren Grenzen; eine Reaktion, die bei Arrabals Versuch ausbleibt:

eine geist- und kulturlose Kloake

die in ganz Europa ihren penetranten Gestank verbreitet […]

 

Österreich selbst ist nichts als eine Bühne

auf der alles verlottert und vermodert und verkommen ist

eine in sich selber verhaßte Statisterie

von sechseinhalb Millionen Alleingelassenen

sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige

die ununterbrochen aus vollem Hals nach einem

Regisseur schreien […]

 

es gibt jetzt mehr Nazis in Wien

als achtunddreißig

Thomas Bernhard: Heldenplatz, in: Dramen VI [= Werke 20], hg. von Martin Huber und Bernhard Judex, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 285, 279, 259.

 

Juliane Werner

Zitate im Original

»La France est un cloaque sans âme ni culture.

La France asperge toute l’Europe de son immonde pestilence.

La France est un méchant théâtre gâté, pourri et en ruines.

La France est représentée par une kyrielle de coquins éhontés qui se détestent les uns les autres.

La France compte 55 millions de ganaches qui ne savent que réclamer à cor et à cri un chef de bronze qui gouverne d’une main de fer.

De nos jours, à Paris, il y a plus de fascistes qu’en 1942.« (Arrabal 1989).

Literaturverzeichnis

Arrabal, Fernando: »Insulte à la France«. In: Cahier Thomas Bernhard, hg. von Dieter Hornig und Ute Weinmann. Paris: L’Herne 2021. S. 236-237. [Zuerst in: L’Idiot International, 10. Oktober 1989.]

Arrabal, Fernando: [Internetauftritt zu Werk und Leben] https://arrabalfernando.com/.

Bernhard, Thomas: Dramen VI [= Werke 20], hg. von Martin Huber und Bernhard Judex. Berlin: Suhrkamp 2012.

Burgtheater Wien (Hg.): Heldenplatz. Eine Dokumentation. Wien: Burgtheater 1989.

Dumur, Guy: »Feu sur l’aigle à deux têtes!«. In: Le Nouvel Observateur, 21.-29. Februar 1991.

Weinmann, Ute: Thomas Bernhard, l’Autriche et la France. Histoire d’une réception littéraire. Paris: L’Harmattan 2000.