Christian Kracht

(Geb. 1966 in Saanen)

Der Zerfall dieser Familie, ja, die Atomisierung dieser Familie, als deren Tiefpunkt man den achtzigsten Geburtstag meiner Mutter im Gemeinschaftszimmer der Nervenklinik Winterthur bezeichnen muß, war von einer bodenlosen Hoffnungslosigkeit, ich sage es gerne noch mal und immer wieder. [...]

Wenn man in Zürich war, dachte man ja immer, es würde einen der Geist von Joyce und des Cabaret Voltaire umwehen, aber in Wirklichkeit war es lediglich eine Stadt der geldgierigen Oberleutnants und selbstherrlichen Strizzis. [...]

Die Zürcher sagten zu dieser Gegend furchtbarerweise Goldküste, oder sie sagten es zur gegenüberliegenden Seeseite, ich hatte vergessen, welche Seite gemeint war, es war ja auch ganz egal. Es war jedenfalls ein deprimierender weißer Faux-Bauhaus-Kasten aus den frühen Neunzigern, in dem sie seit über fünfundzwanzig Jahren wohnte, mit Seesicht. Ganz und gar abstoßend war es, das Haus, an der schrecklichen Goldküste, die vielleicht auch drüben auf der anderen Zürichseeseite war und gar nicht hier. Ich stieg aus, zahlte und läutete einmal, zweimal. Insgeheim erwartete ich, daß meine Mutter nicht aufmachen würde, gleichzeitig hoffte ich natürlich, daß sie öffnen würde und am Leben sei und nicht wieder in einer Blutlache lag.

Christian Kracht: Eurotrash, Köln: Kiepenhauer & Witsch 2021, S. 17, 18, 58f.