Hermann Burger

Die starke Bernhard-Rezeption in der Schweiz (vgl. Bugmann 1995), vor allem des Romans Der Untergeher (1983), in dem das Land als »entsetzliche Gegend« und »tödliche[r] Kerker« (Bernhard: 2006: 46) aufscheint, umfasst auch die produktive Aufnahme durch Schweizer Schriftsteller:innen, neben E. Y. Meyer und Paul Nizon in geringerem Maße auch Reto Hänny und Christian Kracht. Der Autor, Journalist und Germanist Hermann Burger (1942-1989) sticht diesbezüglich hervor. 

Aufgewachsen im Dorf Menziken und im beschaulichen Aarau, studiert Burger Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich, 1973 promoviert er mit einer Arbeit zu Paul Celan. Nach einer Habilitation zur Schweizer Gegenwartsliteratur arbeitet er als Dozent für deutsche Literatur an der ETH Zürich und als Feuilletonredakteur des Aargauer Tagblatts. 1976 erscheint sein erster Roman Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz, der zwischen Humor und morbider Groteske changiert. Zu seinem vielfältigen Werk zählen ferner Gedichtbände, poetologische und essayistische Schriften, Erzählungen und das auf vier Bände angelegte Roman-Projekt Brenner. Burger nahm sich 1989, wenige Monate nach Thomas Bernhards Tod, das Leben.

Das heißt, daß der Turnsaal ungefähr jeden Monat einmal in eine Abdankungshalle umfunktioniert oder, wenn Sie lieber wollen, die Abdankungskapelle in eine Turnhalle zurückverwandelt werden muß. Diesem Ereignis hat sich, nebenbei gesagt, der ganze Schulbetrieb unterzuordnen. Wenn ich mich auf meinen diagnostischen Turnhallen-Instinkt verlassen darf, würde ich behaupten, daß es das ständige Hin und Her sei, Turnmiene, Trauermiene, Turnmiene, Trauermiene, das diesem überdimensionierten, knarrenden Ungemach das Gemüt geknickt habe.

Hermann Burger: Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz, Frankfurt am Main: Fischer 1979, S. 10f.

Der Protagonist Peter Stirner (alias Schildknecht) ist seit zehn Jahren Lehrer im abgelegenen Schweizer Ort Schilten und verfasst dort den titelgebenden Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Die unmittelbare Nähe des Schulgebäudes zum örtlichen Friedhof beeinträchtigen Schildknechts geistige Verfassung zusehends und lassen ihn immer hoffnungsloser und eigentümlicher werden. Die beiden Institutionen teilen sich ein Telefon und auch die Begräbniszeremonien finden in der Turnhalle statt.

Die oben zitierte »Turnmiene«/»Trauermiene«-Kippfigur ist eines der Beispiele für »formalästhetische Ähnlichkeiten« (Betz/Mittermayer 2018: 515) mit Bernhards Werk, die zusammen mit den thematischen und motivischen Parallelen (hier vor allem Wahn und Tod betreffend) erkennen lassen, warum Burger Bernhard als seinen »Prosalehrer« (Burger 1983: 238) bezeichnet. Burger, der in seinem Band Ein Mann aus Wörtern (1983) Bernhards autofiktionalen Salzburg-Beschreibungen einen Artikel widmet (»Schönheitsmuseum-Todesmuseum. Thomas Bernhards Salzburg«), fügt dort auch einen kleinen Erlebnisbericht ein: 1982 auf Kur in Badgastein, will er Bernhard besuchen. Die Chancen stehen schlecht: »Sein Salzburger Lektor hatte mir gesagt: Sie können ihm schreiben, aber wahrscheinlich wird er nicht antworten. Sie können ihn auch anrufen, nur hat er kein Telefon.« (Burger 1983: 233) Burger dringt zuletzt mithilfe der Nachbarschaft in den Nathaler Vierkanthof vor, für ein kurzes Gespräch, bei dem Bernhard ihm sogar beinahe einen Schnaps anbietet. Burger solle, wenn er in der Gegend sei, wiederkommen, auch wenn das Gespräch nach Burgers Einschätzung alles andere als ein angeregtes war: »Es ist nicht leicht, ein Gespräch zu führen, wenn man praktisch jede Zeile seines Gegenübers kennt, sich aber freiwillig dem Zitatverbot unterzieht.« (Burger 1983: 237)

 

V. B.

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Der Untergeher [= Werke 6], hg. von Renate Langer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. 

Betz, Uwe, und Manfred Mittermayer: »Wirkung auf andere Autoren und Autorinnen«. In: Bernhard Handbuch. Leben–Werk–Wirkung, hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Stuttgart: Metzler 2018. S. 512-519.

Bugmann, Urs: »Aber die Schweiz ist dann doch für alle der tödliche Kerker«. In: Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa, hg. von Wolfram Bayer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995. S. 414-422.

Burger, Hermann: »Zu Besuch bei Thomas Bernhard«. In: Ein Mann aus Wörtern. Frankfurt am Main: Fischer 1983. S. 233-238.

Burger, Hermann: »Schönheitsmuseum-Todesmuseum. Thomas Bernhards Salzburg«. In: Ein Mann aus Wörtern. Frankfurt am Main: Fischer 1983. S. 124-145.

Burger, Hermann: Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz, Frankfurt am Main: Fischer 1979.