Emily Hall
Emily Hall
Emily Hall ist eine US-amerikanische Autorin aus New York City. Nach Abschluss ihres MFA an der Columbia University war sie in den 1990er Jahren als Kunstkritikerin der Wochenzeitung The Stranger in Seattle tätig, seit den 2000ern schreibt sie regelmäßig für international renommierte Periodika wie das Kunstmagazin Artforum. Zurück in New York City arbeitete sie als Lektorin und Herausgeberin für das Museum of Modern Art. Ihr Debütroman The Longcut (2022) erreichte die Shortlist für den International Novel Prize. In ihrer Freizeit lernt sie Deutsch, um Thomas Bernhard im Original lesen zu können.
Vom ersten Satz an – »I was always asking myself what my work was, I thought as I walked to the gallery« (Hall 2022: 3) – wird in The Longcut anhand von Inquits, Verschachtelungen und der ganz eigenen Rhythmik die stilistische Annäherung an Bernhard spürbar, die sich im Roman fortsetzt im Monologstil, überlangen Sätzen und Denkspiralen. Durchs Gehen zum Denken angeregt, fragt sich die namenlose Protagonistin, eine von ihrem Bürojob gelangweilte Künstlerin, auf dem Weg zu einem Termin mit einer Galeristin, worin ihre eigene künstlerische Arbeit überhaupt bestehe. Vorangegangene Versuche, diese Frage zu beantworten, seien gescheitert; Experimente, durch verschiedene künstlerische Techniken das geeignete Medium für sich zu finden, ins Leere gelaufen.
Certainly, further, this – my seriousness or lack of it – had not constituted an impediment for my friend the well-known artist who set up situations feeling inclined to set in motion a meeting between me and the gallery owner or gallerist, a word I was working on saying, even as my friend the downtown professor of media arts refused to say it – my downtown friend often providing me with lingo which I could nevertheless usually not say – who wanted to know about my work, was interested in my work, whatever it was or turned out to be.
Emily Hall: The Longcut, Dallas/Dublin: Dalkey Archive Press 2022, S. 89.
Nicht nur die eingehenden Alltagsbeobachtungen der Hauptfigur, auch das aus ihrer Introspektion resultierende Überinterpretieren von Annahmen und Zusammenhängen erinnert an Bernhards Figuren. Durch die phänomenologische Perspektive ihrer Protagonistin entfremdet Hall auch die Leser:innen auf humoristische Weise von der sie umgebenden Umwelt. Dabei ist der Erzählmonolog mindestens so rekursiv wie in Bernhards Prosa: Formulierungen, Satzelemente und Details wiederholen sich, werden neu verknüpft und kombiniert. Bei Bernhard sind es Einschübe wie das in Der Untergeher wiederkehrende »dachte ich, als ich ins Gasthaus eintrat« (W6: passim) oder in Holzfällen das beständige »dachte ich auf dem Ohrensessel« (W7: passim), die die mäandernden Gedanken strukturieren. Hall orientiert sich an dieser »formula« (Publishers Weekly 2022) und verankert ihrerseits mittels regelmäßiger Einschübe wie »I recalled as I walked« (Hall 2022: passim) die innere Denkhandlung in der Außenwelt, in der sich die Hauptfigur bewegt. »In writing The Longcut, all these flights of thinking, it was important to me that there be certain anchors in the physical world« (Hall/Hernandez-Sias 2022: n. p.), erklärt Hall in einem Interview diese Technik.
At some point later, on a particular day between other days, I had put into motion the idea of not just observing but photographing the egg in various contexts, thinking at that time that photography might reveal the truth about any object, or that photography plus time would reveal it, this being something that could be said to have come out of my observations about photography, about the difference between the world and the photographed world, this seeming to me to be a serious enquiry, this seeming to me to be something that could be said about a serious enquiry but probably not something that would be said by serious artist-photographers or the serious artist-photographers I happened to know. Where would I go to meet some unserious or appropriately less serious artist-photographers, I had found myself considering at the time, I recalled as I walked.
Hall: The Longcut, S. 18.
Während des Schreibprozesses sah sie die widersprüchlichen, wirren Gedankengänge ihrer Protagonistin jedoch als Schwachpunkt des Buchs. Denn ursprünglich habe sie »[a] big social novel« schreiben wollen, »[a] Dickens novel«, dann aber erkannt, dass ihr Interesse nicht »those Dickens things« (Hall/Mudede 2022: n. p.), sondern eigentlich anderen Arten von Romanen gilt. Als sie nach langem Ringen mit dem Projekt zufällig in einer New Yorker Buchhandlung auf Bernhards Beton gestoßen war, fand sie darin »a narrator who repeated himself and contradicted himself constantly, often within a single sentence. The digression, the inconsistencies, the contradictions: they weren’t flaws, they weren’t errors – they were the writing. […] Bernhard showed me the way out. My debt to him is enormous« (Hall/Falk 2022: n. p.).
Die LA Times bezeichnet The Longcut – neben Jordan Castros The Novelist und Mark Habers Saint Sebastian’s Abyss – als »a Bernhardian rant« (Ferri 2022: n. p.), doch wirkt Halls Protagonistin verunsicherter, überforderter als es Bernhards Figuren durchscheinen lassen. Einerseits wissbegierig und neugierig, wird sie andererseits Opfer ihrer eigenen Sprunghaftigkeit, ihres Abschweifens, und kann immer weniger zwischen verschiedenen Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen unterscheiden, immerzu »flitting between them« (Hanson 2022: n. p.) und immerzu der Frage folgend, was ihre Arbeit als Künstlerin ausmache. Ihre Gesellschaftskritik ist dabei eine indirekte, weniger angriffslustige, deswegen aber nicht minder beißende. Sie zerlegt den gesellschaftlichen Umgang mit Kunst als genuin kreativen Schaffensprozess einerseits, als willkürlich kommerzialisierbares Erzeugnis andererseits. Ein Umgang, der auch das Tauziehen von künstlerischer Autonomie und Vermarktbarkeit in den Gedankengängen der Heldin bedingt, die Gefahr läuft, im Getriebe eines kapitalistischen Kunstbetriebs zerrieben zu werden.
Hall und Bernhard eint die Unbeirrbarkeit, mit der sie von einem – gedanklichen oder physischen – Gegenstand zum nächsten übergehen, so dass »[m]oment to moment, step by step, thought by thought, images and objects present themselves each as the center of the universe, each as the portal into the real« (Hanson 2022: n. p.). Als Kunstkritikerin genieße Hall die Herausforderung, für Abstraktes konkrete Worte zu finden und in ihren Beschreibungen für Unmissverständlichkeit zu sorgen; im Gegensatz dazu habe sie in The Longcut den umgekehrten, sprachspielerischen Ansatz gewählt, »[a]bandoning clarity comma by comma, gerund by gerund, to see what happens, to see how far syntax can be pushed until it breaks or the sentence ceases to function« (Hall/Falk 2022: n. p.). Als Reaktion auf ebendieses Interesse an den Möglichkeiten und Mitteln von Sprache meinen manche Rezensionen, Halls Debutroman lese sich wie »narrated by the love child of Thomas Bernhard and Lydia Davis« (Ferri 2022: n. p.). Beide Schriftstellerinnen – wie auch Jen Craig, eine weitere Inspirationsquelle für The Longcut (vgl. Ferri 2022: n. p.) – teilen sich Humor, sprachliche Innovation und den sezierenden Scharfblick – und naturgemäß eine Begeisterung für Thomas Bernhard.
Lisa Akhila Plakolm
Literaturverzeichnis
Bernhard, Thomas: Der Untergeher [= Werke 6], hg. von Renate Langer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.
Bernhard, Thomas: Holzfällen [= Werke 7], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
Falk, Naomi: »The Deliberately Nonlinear. Emily Hall Interviewed by Naomi Falk«. In: BOMB Magazine, 28. Juli 2022.
Ferri, Jessica: »Why are these summer books indebted to an Austrian author of nihilistic rants?«. In: Los Angeles Times, 27. Juni 2022.
Hall, Emily: The Longcut. Dallas/Dublin: Dalkey Archive Press 2022.
Hanson, Jack: »Tricks of the Trade. Emily Hall joyously subverts literary effect«. In: The Baffler, 25. Mai 2022.
Hernandez-Sias, Angelo und Emily Hall: »›Strenuous Acts of Attention‹. A Conversation with Emily Hall«. In: Los Angeles Review of Books, 7. Juli 2022.
Mudede, Charles und Emily Hall: »Inside Former Stranger Critic Emily Hall’s New Book«. In: The Stranger, 22. Juli 2022.
N. N.: »The Longcut«. In: Publishers Weekly, 3. November 2022.