Als er seine Aufzeichnungen anfertigte, habe er nicht an ein Publikum gedacht. Er habe nicht vorgehabt, diese Aufzeichnungen irgend jemandem zugänglich zu machen. Natürlich würde ich jetzt denken, er übertreibe. Er sehe mir an, daß ich genau dies dächte. Er habe ja geschrieben, das Geheimnis des großen Kunstwerks ist die Übertreibung und daß er ein Übertreibungskünstler sei. Aber seine Aufzeichnungen seien kein Kunstwerk, er sei kein Künstler. Wer fähig sei zu übertreiben, der sei imstand, die Schmerzen und die Demütigungen des Daseins zu übertreiben, wer die Schmerzen und Demütigungen des Daseins übertreibe, lebe noch, wer noch lebe, habe auch die Kräfte übertrieben, die ihn in die Lage versetzten, die Schmerzen und Demütigungen des Daseins zu ertragen. Er, Murau, habe nie übertrieben. Er sei bis in alle Winkel seines Daseins unfähig, bei der Beschreibung irgendeines Dings, irgendeines Gedankens, irgendeines Menschen zu übertreiben. Er wäre nichts lieber als der größte Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist. Auch wenn er es immer wieder beschwöre, wenn er sich wahrheitswidrig immer wieder als Übertreibungskünstler bezeichne, er beherrsche die Kunst der Übertreibung nicht und sei deshalb nicht fähig, seine Existenz auszuhalten, sie zu ermöglichen. Er habe oft geglaubt, es sei ihm einmal gelungen zu übertreiben. Aber dann habe ihn jedesmal die Wirklichkeit eingeholt, und der Zeitablauf habe ihm bewiesen, daß er wieder nicht übertrieben habe.
Ernst-Wilhelm Händler, Fall, Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt 1997, S. 237f.