Thomas Melle

Thomas Melle, 1975 in Bonn geboren, lebt in Berlin. Sein Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Philosophie in Tübingen, Berlin und Austin, Texas, hat er mit einer Arbeit zum amerikanischen Autor William T. Vollmann abgeschlossen, dessen Prostituierten-Roman Whores for Gloria (1991) er ins Deutsche übersetzte, ebenso wie Werke von Christopher Isherwood, Tom McCarthy und Quentin Tarantino. Melle schreibt Theaterstücke und Romane, darunter Sickster (2011) und 3000 Euro (2014), das ebenso wie Die Welt im Rücken (2016) die Shortlist des Deutschen Buchpreises erreichte. Die Welt im Rücken wurde 2017 vom Wiener Burgtheater für die Bühne und vom deutschen Südwestrundfunk als Hörspiel adaptiert. 

Das Weiterleben von Thomas Bernhard als literarische Figur nimmt viele Formen an: vom sporadischen Auftauchen (Antonio Fian) bis zur romandurchziehenden Präsenz (Alexander Schimmelbusch), unter Pseudonym (Stefan Weinberg) oder unter Klarnamen (Horacio Castellanos Moya), als Schriftsteller (Robert Schindel), Wasserleiche (Alois Brandstetter) oder Besucher eines Fastfood-Restaurants (Thomas Melle). Hinter dem reizvollen literarischen Gedankenexperiment, einen fiktionalisierten Thomas Bernhard fortleben zu lassen, liegt in Thomas Melles Roman Die Welt im Rücken (2016) ein ernster Hintergrund: Bernhard ist Teil einer psychotischen Symptomatik.

 

Die Lektüre des autofiktionalen Romans (vgl. Jaeger 2017: n. p.) ist zugleich ein Eintauchen in die bipolare Erkrankung des Protagonisten. In dessen manischen Phasen tauchen zahlreiche Stars in seiner Umgebung auf. Es kommt zu Anbandelungen mit Björk und Madonna und zu Abendplanungen mit MCA von den Beastie Boys (denen Melle 2022 einen Band der KiWi Musikbibliothek gewidmet hat: Thomas Melle über Beastie Boys, die beste Band der Welt, über frühe Konzerte und späte Versäumnisse). In einem Spiegel-Interview erklärt Melle die eigene Erfahrung hinter dem Prominentengewimmel: »Man muss das in diesem messianischen Kontext sehen: Ich war der heimliche Überprominente. Diese Leute, deren Werke alle von mir handelten, kamen mir zu Hilfe. Sie erschienen kurz auf der Straße, blickten sich um, gaben mir Zeichen. Auch Tote, die anscheinend gar nicht tot waren.« (Melle/Becker 2016: n. p.) So imaginiert auch die Hauptfigur in Die Welt im Rücken, der Bernhard »sehr wichtig gewesen war« (Melle 2020: 162), innerhalb ihres »Wahnsystems« eine Parallelwelt von Untoten, samt schlüssiger Erklärung:

[V]iele Tode seien von den Toten selbst nur vorgetäuscht worden, weil Bekanntsein, wie ich merkte, wie eine Vernichtungsmaschine wirkte. Der Anfeindungen waren einfach zu viele, dort draußen auf der Straße, in der Stadt. Der Faschismus lag allgegenwärtig in der Luft. Und so musste es irgendwo, wohl in den Alpen, ein suhrkampgestütztes Resort geben, wohin sich die Geisteskrieger nach dem erklärten Tod zurückziehen und Gebirgsluft atmen konnten. Dort saßen Bachmann, Bernhard, Beckett.

Thomas Melle: Die Welt im Rücken, Berlin: Rowohlt 2016, S. 167.

 

Bernhard, dem Bachmann und Beckett (trotz gewisser Anfeindungen wie »Für mich ist Beckett seit 10 Jahren tot, er schickt nur kurze Botschaften aus dem Jenseits«, Bernhard/Cirio: 1992: 103) weit lieber gewesen sein dürften als die meisten seiner schreibenden Zeitgenoss:innen, besinnt sich in Melles Roman rasch auf seine Bestimmung als »Alleinmensch« (Bernhard 2006: 142), und landet in Nordrhein-Westfalen:

Bernhard allerdings war es wohl naturgemäß zu gemütlich geworden, weshalb er, wie es schien, kurz aus der Idylle ausreißen musste. Oder war er nur die Vorhut der Kommenden? Jedenfalls, man glaubt es kaum, sah ich ihn in dieser Zeit einmal beim Bahnhofs-McDonald’s in Wuppertal sitzen und verdrießlich einen Big Mac verschlingen, den Blick skeptisch zur Seite gewandt, genau wie auf dem roten Cover des ›Auslöschung‹-Taschenbuchs. Es schmeckte ihm nicht. Ich ließ ihn in Ruhe weiteressen.

Melle: Die Welt im Rücken, S. 168.

 

J. W.

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: »Austriacus infelix«, Interview mit Rita Cirio (1982). In: Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard, hg. von Sepp Dreissinger. Weitra: Bibliothek der Provinz 1992. S. 95-103. 

Bernhard, Thomas: Der Untergeher [= Werke 6], hg. von Renate Langer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. 

Jaeger, Stefan: »Die Krankheit als Heimat: Thomas Melle wirft in ›Die Welt im Rücken‹ einen schonungslosen Blick auf sein Leben mit der bipolaren Störung«. In: literaturkritik.de, Nr. 3, März 2017, https://literaturkritik.de/melle-die-welt-im-ruecken-die-krankheit-als-heimat,23211.html (eingesehen 7. Juni 2022).

Melle, Thomas: »Wer depressiv ist, wird schräg angesehen«, Interview mit Tobias Becker. In: Der Spiegel, 1. September 2016,  https://www.spiegel.de/spiegel/thomas-melle-wer-depressiv-ist-wird-schraeg-angesehen-a-1110067.html (eingesehen 7. Juni 2022).

Melle, Thomas: Thomas Melle über Beastie Boys, die beste Band der Welt, über frühe Konzerte und späte Versäumnisse. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022.

Melle, Thomas: Die Welt im Rücken. Berlin: Rowohlt 2020.