Alexander Schimmelbusch

(Geb. 1975 in Frankfurt am Main)

Ich sah ihn sofort, unverkennbar: Thomas Bernhard. […] Es war erstaunlich, wie gesund er aussah, dreiundachtzig war er mittlerweile, aber seine Physis wirkte jugendlich, wie bei einem dieser alterslosen Rockstars, deren von einem Vierteljahrhundert der Heroinabhängigkeit gestählten Immunsysteme keine Gegner mehr zu fürchten haben. Seine Begleiterin schien für Bernhard nicht zu existieren, er las etwas auf dem Telefon, das er in einer Hand hielt, die er auf dem Tisch abstützte, keine Nachricht, eher eine Zeitung, die Süddeutsche, wie es mir anhand von Gesichtsausdruck und Kinnwinkel als plausibel erschien, seiner Körpersprache zufolge nicht das Feuilleton, sondern die Politik oder das Panorama, möglicherweise. […] Er müsse sich entschuldigen, sagte Bernhard, sein Agent leide unter einem perversen Allwissenheitsfimmel, bei jedem der Interviews heute wolle Wylie eine seiner Untergebenen dabei haben. Hinzu käme ein unkontrollierbarer Allmachtswahn, der eine Armee aus Kleinbürgern notwendig mache, aus nachvollziehbaren Gründen, loyalere Untergebene als Kleinbürger seien heute nicht mehr zu finden, wenn man eine Funktion ordnungsgemäß erfüllt sehen wolle, müsse man diese einem Kleinbürger übertragen. Im Journalismus beispielsweise sei heute eine Kleinbürgerpest von apokalyptischen Ausmaßen zu verzeichnen, sagte Bernhard, das sei die Wahrheit.

 

Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität, Berlin: Ullstein, 2015, S. 191f.