Ilse Aichinger

(Geb. 1921 in Wien, gest. 2016 in Wien)

Wenn wir ihn immer wieder lesen, immer weiter lesen, immer neu beim Text bleiben, nicht zwischen die Zeilen dringen – das ist sicher nicht sein Wunsch –, sondern bei den Zeilen, den Worten, den Haupt- und Nebensätzen, den Satzzeichen bleiben, bei allem in seiner unnachgiebigen Reihenfolge, wenn wir die oft sehr scharfen Angriffe, auch wenn sie gegen uns selbst gerichtet sind, gelassen hinnehmen, denn auch sie sind ein Zeichen leidender Auseinandersetzung, geht uns seine und unsere gemeinsame Welt auf. Thomas Bernhard attackiert nicht, was ihm auch nur im geringsten Maß gleichgültig ist. Er attackiert, woran er leidet, und er leidet sehr oft an dem, dem er am meisten zugeneigt ist.

 

Ilse Aichinger: »Stifter und Bernhard«, in: Der Standard, 2. November 1990.