Norbert Gstrein

(Geb. 1961 in Mils bei Imst) 

Wieder einmal schien er meine Anwesenheit vergessen zu haben, und ich hatte Mühe, ihm zu folgen, als er sich ausbreitete, ob Wilhelm überhaupt etwas wahrnehme oder nicht, aber Hirschfelder habe mit Leuten wie Ochsner und Ladurner nichts zu tun, man brauche nur Ochsners Industriereportagen zu verfolgen, oder Ladurners Expeditionen der Empfindsamkeit, man brauche sich nur daran zu halten, wie Ochsner in seinen Kitschberichten aus den Krisenregionen Stahlwerke mit Konzentrationslagern vergleicht, um den Arbeitern Gehör zu verschaffen, wie er allen Ernstes erklärt hat, oder mit welcher Blindheit Ladurner über die Schlachtfelder des Jahrhunderts spaziert, als Grillenfänger, als Harlekin, ein Windbeutel mit einem übergroßen Schmetterlingsnetz, und die Blindauer, er nahm kein Blatt vor den Mund, die Blindauer weiß nichts von Mördern und von Henkersknechten, wenn sie bei jeder Gelegenheit ihr Maul aufreißt und schreit, das ganze Land sei noch voll davon, nach fünfzig Jahren, voll von Mördern und von Henkersknechten, weiß nichts von einer Atmosphäre wie in einer Fleischerei mit Resten aus Massengräbern, wenn es ihr so leicht von den Lippen geht, weiß nichts, aber auch gar nichts von Gefangenschaft und Folter, obwohl sie so tut, als wäre sie selbst davon betroffen.

Norbert Gstrein: Selbstportrait mit einer Toten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 58f.