Thomas Mulitzer

Thomas Mulitzer (geb. 1988) ist in Goldegg im Pongau aufgewachsen. Heute lebt er in Salzburg, wo er ein Studium der MultiMediaArt an der Fachhochschule Salzburg absolvierte. Medienübergreifend angelegt ist auch sein künstlerisches Schaffen: Mulitzer, der selbst Sänger, Gitarrist und Songwriter bei der Mundart-Punk-Band ›Glue Crew‹ ist, rückt eine fiktionale Punk-Band auf Revival-Tour in den Mittelpunkt seines zweiten Romans Pop ist tot (2021). Das nostalgische Moment durchwirkt auch seinen Erstling Tau (2017), dessen Held an den Schauplatz von Thomas Bernhards Debütroman Frost (1963) zurückkehrt.

Und dann sind auf einmal Leute gekommen, nicht zum Essen, sondern auch zum Schauen, die hatten sein Buch dabei und haben mit den Fingern auf uns gezeigt und gedacht, sie würden das vorfinden, was sie im Buch gelesen hatten, aber das war ja nicht so. Er hat Dinge über Weng geschrieben, die kann und will ich gar nicht wiederholen, aber du wirst das eh schon gelesen haben. Dieses Verachtung, dieser Hass. Aber er hat immer nur die besten Stücke Fleisch bekommen, so wie alle anderen Gäste auch. Er hat auch immer reichlich Trinkgeld gegeben…aber es war mir von Anfang an klar, dass er ein Schuft ist, ein miserabler.

Thomas Mulitzer: Tau, Wien: Kremayr & Scheriau 2017, S. 87f.

Von einem Professor damit beauftragt, im Ort seiner Jugend Feldforschung in Sachen Thomas Bernhard zu betreiben, bricht der junge Held nach Weng auf. Kühl und distanziert will er der Aufgabe nachkommen, doch das Buch, das er bei sich trägt, Thomas Bernhards Frost, führt mit seinen drastischen Schilderungen des Schauplatzes Weng zum genauen Gegenteil. Je mehr er seine Umwelt durch den Bernhard-Blick wahrnimmt, desto stärker spürt er den Frost in seiner eigenen Seele. Erinnerungen an die Vergangenheit holen ihn ein und geleiten ihn, der sich seit jeher als Fremdkörper in seiner Heimat empfunden hat, Richtung Aussöhnung mit dem eigenen ›Herkunftskomplex‹. 

Seinen Großvater zum berühmten Dichter zu befragen, erweist sich als schwieriges Unterfangen, nachdem sich seinerzeit die Reaktionen auf Frost sehr unglücklich auf dessen Familienleben ausgewirkt hatten. Die Großmutter, Vorbild für die vermeintliche Wirtin in Bernhards Handlung, sei nicht auf die Avancen des Dichters eingegangen und allein aus diesem Grund als abstoßend dargestellt worden, so der Großvater im obigen Zitat.

Durch ein dichtes Netz an intertextuellen, teils parodistischen Bezügen wird in Tau die Verbindung zur Vorlage Frost deutlich – doch ist Tau mehr als nur ein ›Antworttext‹ auf das Original: Zwar werden Bernhards Darstellungen an vielen Stellen überzeichnet, die eigentlich Parodierten sind hier jedoch diejenigen, die Bernhard beim Wort nehmen und glauben, ihn verstanden zu haben, wie auch der Held selbst. Erst als ihm bewusst wird, dass er seine Umgebung von sich aus »bernhardisiert« (Weidenhiller 2007: 219) hat, kann ein geistiger ›Tau-Vorgang‹ im Hinblick auf seine Herkunft einsetzen. Der Erzähler kommt zu dem Schluss: »Wie kann man sich als Europäer, als Weltbürger fühlen, ohne seinen Frieden mit der eigenen Herkunft geschlossen zu haben, ohne vorher voll und ganz Provinzler zu sein? Nur als Heuchler.« (Mulitzer 2017: 275).

Versöhnliche Töne halten Einzug in die Anti-Heimatliteratur, die Heimat wird für das Ich aus ihrer Nicht-Idylle heraus begreif- und annehmbar. Dies gelingt durch die radikale Befreiung des »Heimat-Raum[s] von gängigen Schönheitsklischees« und seiner Auskleidung mit »einer existentiellen Dimension« (Betz/Mittermayer 2018: 513), wie bereits 1963 in Frost: 

Kinder entdeckten in Mulden hochexplosive Panzerfäuste, von denen sie zerrissen wurden. Fetzen von Kindern, wissen Sie, auf den Bäumen. […] Und da und dort zerschossene Uniformen auf den Bäumen und aus dem Tümpel herausschauende steife Hände und Füße. Es dauerte Jahre, bis die Einheimischen etwas Ordnung in die Wälder brachten, in das ganze Land.

Thomas Bernhard: Frost [= Werke 1], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 147.

Der Frost im individuellen und kollektiven Seelenleben wird von Mulitzer mit der Beschreibung der verdrängten NS-Vergangenheit der Einwohner:innen in den Bereich des Sagbaren geholt und auf eine Weise kontextualisiert, die Tau teilsweise auch wie eine Hommage an Hans Leberts Die Wolfshaut (1960) erscheinen lässt, einen weiteren Pionierroman dieser Zeit:

An jeder Kurve klebt das Blut von längst vergessenen Menschen, von Opfern und Tätern, von kaltblütigen Offizieren, Feiglingen, armen Hascherln und Raufbolden, von Kleinkindern und Greisen. Über die Einschusslöcher und Blutlacken, die Kater und die Leichenteile ist längst Gras gewachsen, aber die Wunden triefen weiter.

Mulitzer: Tau, S. 59f.

 

A. W.

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Frost [= Werke 1], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

Betz, Uwe, und Manfred Mittermayer: »Wirkung auf andere Autoren und Autorinnen«. In: Bernhard Handbuch. Leben–Werk–Wirkung, hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Stuttgart: Metzler 2018. S. 512-519.

Mulitzer, Thoma: Tau, Wien: Kremayr & Scheriau 2017.

Weidenhiller, Ute: »Das schwere Erbe: Nachklänge Thomas Bernhards in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«. In: Cultura Tedesca 32, Jänner-Juni 2007 (»Thomas Bernhard«). S. 217-229.