Gert Hofmann

Der im sächsischen Limbach geborene Gert Hofmann (1931-1993) war Autor von Theaterstücken und mehr als vierzig Hörspielen, wovon Die Brautschau des Dichters Robert Walser im Hof der Anstaltswäscherei von Belladay, Kanton Bern 1983 mit dem ›Hörspielpreis der Kriegsblinden‹ ausgezeichnet wurde. Nach seiner 1957 fertiggestellten Dissertation zu Henry James – einem Autor, der in Bernhards Frost (1963) als Figuren-Lektüre gebührend Erwähnung findet – hielt es Gert Hofmann zunächst nicht für möglich, Romane zu schreiben und konzentrierte sich auf Hörspiele und Theaterstücke. Nachdem er an Universitäten in England, Frankreich, Schottland, den USA und Slowenien Germanistik unterrichtet hat, wandte er sich vergleichsweise spät doch der Prosa zu. Der Anlass soll ein Hörspiel von Thomas Bernhard gewesen sein, das Hofmann während einer Autofahrt im Radio gehört hat (vgl. Eichenthal 2013).

Der Roman Die Fistelstimme (1980), mit dem Hofmann 1979 den Ingeborg-Bachmann-Preis‹ gewann, steht wie auch die Novelle Die Denunziation (1979) »formal, und so auch modal, noch erkennbar unter dem Einfluß von Thomas Bernhard« (Schede 1999: 207), so der Autor und Literaturwissenschaftler Hans-Georg Schede, der zu Hofmann promoviert hat. Thomas Bernhard, den Hofmann »außerordentlich verehr[t]e« (Schede 1999: 208), diente ihm als literarisches Vorbild für die existentiellen Krisen seiner getriebenen Protagonist:innen (vgl. Hagestedt 2002).

Die Fistelstimme besteht aus dem atemlosen Brief-Bericht eines deutschen Lektors, der nach Ljubljana gereist ist, um an der dortigen Universität einen Lehrauftrag anzunehmen. Auf der Rückreise versucht er, Ordnung in seine sich überschlagenden Gedanken zu bringen: Die Stationen seines Scheiterns – eine Unterredung mit dem Dekan, ein Treffen mit dem Studenten Ilz, ein Streit mit der Vermieterin – sind überschattet von seiner Vergangenheit, speziell von einer wegen Übernahme fremden Gedankenguts abgelehnten Dissertationsschrift. Die Bestrebungen des stets als »neuer Lektor« titulierten Helden, seine neue Doktorarbeit – oder überhaupt irgendeine Schrift – fertigzustellen, misslingen. An die Stelle des Schreibens tritt das Schreiben über das Nicht-Schreiben (vgl. z. B. Geoff Dyer, Elfriede Jelinek):

Auf jeden Fall, sage ich mir, schreibt der neue Lektor, wirst du das untere Zimmer, in welchem die Konstanzer Verständnislosigkeit gelegen hat, bewohnen, das ist klar. In den Konstanzer Schrank wirst du deine Wäsche legen, ja, das ist alles klar. Und dann alles niederschreiben, was sich angesammelt hat! Und wo, fällt mir ein, wirst du alles niederschreiben? Es sammelt sich ja viel an. Und bin noch einmal, erst oben, dann unten, durchs Haus und habe, schreibt er, für das Niederschreiben den engen schmalen oberen Raum mit Tisch, Stuhl, Bett, einem Fenster mit dem Blick auf einen vom Nebel verhohlenen Baum, einen Kirschbaum, glaube ich, ausgewählt.

Gert Hofmann: Die Fistelstimme, München, Wien: Hanser 1980, S. 10.

 

Zunehmend verliert sich der Lektor in seinen wiederkehrenden Gedankengängen, stößt sich an der Sprache, zerpflückt jedes Wort. Der Einschub »schreibt der Lektor«, der den monologischen Bericht des Ich durchsetzt, lässt von Anfang an vermuten, dass sein Bericht nicht mehr von ihm selbst veröffentlicht werden konnte, nicht unähnlich den Herausgeber-Eingriffen in Thomas Bernhards Beton (1982) und Auslöschung (1986). Schede hebt die inhaltliche Nähe von Die Fistelstimme zu Bernhards Erzählungen Jauregg (1966) und vor allem Watten. Ein Nachlaß (1969) hervor (vgl. Schede 1999: 210f.), mit Blick auf die Nachlasssituation, die Briefform und die Niederschriften der Hauptfigur. Hofmanns vorangegangene Novelle Die Denunziation (1979) ist wiederum vornehmlich an Bernhards Erzählung Amras (1964) angelehnt (vgl. Schede 1999: 209), wie das folgende Zitat erkennen lässt:

Unser Körper. Unser Interesse an unserem Körper hat, seit die Eltern denunziert und wir von der Schule verwiesen sind, stark zugenommen. Wir haben ja jetzt auch mehr Zeit. Und betrachten uns nun jeden Morgen im Spiegel, ziehen unsere Lider herab und machen einander auf die Veränderungen an unseren Stimmen, der Haut etc. aufmerksam.

Gert Hofmann: Die Denunziation, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1987, S. 57.

 

Das Motiv des Geschwisterpaars, das sich, sich selbst überlassen, in die eigene Körper- und Gedankenwelt zurückzieht, ist in Bernhards Œuvre in dieser Form nur in Amras zu finden, in dessen Mittelpunkt Walters und K.s Einsperrung in einen Turm steht:

Wir lebten ständig, oft inständig, das ist wahr, in gegenseitiger Körperabneigung . . . das Körperliche, exzentrische Körperliche Walters war das exzentrische Körperliche unserer Mutter gewesen, mir fremd . . . Mein Körperliches, das unseres Vaters . . . Wir haben zeitlebens zwischen uns beiden vermittelt . . . Durch Walters Krankheit war unsere Abneigung (zueinander) Zuneigung (gegeneinander) geworden . . .

Thomas Bernhard: Amras, in: Erzählungen I [= Werke 11], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 137.

 

M. Ki.

Literaturverzeichnis

Bernhard, Thomas: Amras. In: Erzählungen I [= Werke 11], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 

Eichenthal, Johannes: »Gert Hofmann zum Geburtstag«. In: LitteratA, 30. Jänner 2013, https://www.mironde.com/litterata/2168/reportagen/gert-hofmann-zum-geburtstag (eingesehen 17. Juni 2022).

Hagestedt, Lutz: »Glück auf Zeit. Erinnerung an den 1993 verstorbenen Schriftsteller Gert Hofmann«. In: literaturkritik.de, Nr. 7 (2002), literaturkritik.de/id/5124 (eingesehen am 1. Juni 2022).

Hofmann, Gert: Die Denunziation. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1987.

Hofmann, Gert: Die Fistelstimme. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1980.

Schede, Hans-Georg: Gert Hofmann: Werkmonographie. Würzburg: Königshausen & Neumann [= Epistemata; Bd. 289] 1999.