Patrick Holzapfel

(Geb. 1989 in Augsburg)

Da sitzt Thomas Bernhard. Er ist es, Thomas Bernhard, der Schriftsteller. Auf einer Bank, nur einige Meter von der, auf der ich sitze. Ich weiß, ich weiß, das kann nicht sein. Der Mann lebt doch gar nicht mehr. Er kann es nicht sein. An meinem Geburtstag ist er gestorben, das habe ich mal gelesen. Aber da sitzt er. Seine weißen Schläfen im schütteren Haar, seine funkelnden Augen, die Schrumpelnase, die spitz abknickenden Augenbrauen. Thomas Bernhard! Niemand sonst. Ich schaue ihn an und bin mir sicher, dass er es ist. Er trägt eine Latzhose, einen mit herabfallenden Nadeln bedeckten Hut und schaut griesgrämig in den wolkenlosen Himmel. Der gute Mann ist mit großer Sicherheit aus Fleisch und Blut, denke ich, wenn auch – mit seiner ein wenig ungesunden blaugelben Gesichtsfarbe – etwas kränklich. (...) Kurz glaube ich, dass sich jemand einen selbst für Wien zu morbiden Scherz erlaubt und den erstaunlich gut erhaltenen Leichnam des Schriftstellers hier mitten am Tag in einen Park gesetzt hat. Aber dann rührt er sich doch und blickt mir mit einem Mal scharf und spöttisch in die Augen. Er bewegt die Lippen und spricht. Er spricht, aber was ist denn das? Das ist ja nicht zu fassen. Statt seiner eher trotzig hervortretenden und ganz bestimmt Salzburgerisch gefärbten Sprache dringt ein geradezu einschüchterndes Schwäbisch aus den tiefsten Tiefen Baden-Württembergs an meine Ohren. Ich brauche einige Momente, um überhaupt zu verstehen, was der Mann mir mitteilt, und merke: Wenigstens decken sich die Aussagen des Mannes inhaltlich mit meinen Erwartungen. Ich solle mich verziehen, sagt er. Perplex frage ich ihn, ob er denn nicht Thomas Bernhard sei. Er sei nicht Thomas Bernhard, und ich möge ihn nun doch bitte in Ruhe lassen.

Patrick Holzapfel: Hermelin auf Bänken, Berlin: Rohstoff / Matthes & Seitz 2024, S. 45-47.