Rainald Goetz
Rainald Goetz
(Geb. 1954 in München)
Tatsächlich könne er, sei er ehrlich, nur Werbung machen für sein Spezialgebiet, das menschliche und wissenschaftliche Interessen ideal vereinige. Auch der von ihm angestrebten wissenschaftlichen Laufbahn habe seine Lithiumbesessenheit keineswegs geschadet, im Gegenteil, er habe sich damit in der Fachwelt als Spezialist profiliert, seine Habilitationsschrift, die den Forschungsertrag von mehr als vier Jahren einbringen werde, stehe unmittelbar vor dem Abschluß. Er wolle Raspe nicht drängen, doch im Lauf der nächsten Monate werde sich Raspe nach einem wissenschaftlichen Arbeitsgebiet umsehen müssen, Pflicht im strengen Sinn sei dies freilich nicht, doch es werde erwartet hier, man könne schon sagen, der Chef erwarte ein wissenschaftliches Arbeiten auch der jüngeren Assistenten, und er, Bögl, lade Raspe selbstverständlich ein zur Mitarbeit an seinen Projekten, noch unausgewertetes Material und Fragestellungen gebe es zuhauf. Vor allem die Arbeit in der Ambulanz, das wolle er noch einmal betonen, diese Arbeit an zwei Nachmittagen der Woche sei für ihn inzwischen zu einem geradezu notwendigen Ausgleich der Arbeit hier auf Station geworden, die Kraft, die er hier verbrauche, schöpfe er dort neu, und es sei ihm ganz und gar unverständlich, wie die meisten Kollegen ohne ein derartiges Korrektiv, ohne irgendeine konkrete Hoffnungsdimension die niederdrückende tägliche Arbeit bewältigten, woher die eigentlich ihre Kraft nähmen, er jedenfalls könne sich den Psychiater Waldemar Bögl ohne Lithium überhaupt nicht mehr vorstellen.
Rainald Goetz: Irre, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 183f.