William Gaddis
William Gaddis
William Thomas Gaddis (geb. 1922 in New York City, gest. 1998 in East Hampton, NY) gilt als einer der wichtigsten US-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Seine anspielungsreichen und anspruchsvollen Werke, durchzogen von schwarzem Humor und Sozialkritik, hatten auch aufgrund ihrer experimentellen Form erheblichen Einfluss auf die amerikanische Postmoderne. Gaddis studierte Literatur in Harvard, verließ die Universität aber ohne Abschluss und wurde Faktenchecker beim New Yorker Magazin, bevor er längere Zeit durch Zentral- und Mittelamerika, Europa und Nordafrika reiste. Sein Debütroman The Recognitions (1955) wurde von Kritiker:innen verrissen und fand kaum Beachtung. In den folgenden zwanzig Jahren arbeitete Gaddis für verschiedene Unternehmen, darunter IBM, Eastman Kodak und Pfizer, schrieb Reden und Werbetexte und war als Dokumentarfilmer für die US-Armee tätig. Sein zweites Werk, J R (1975), fast ausschließlich in Dialogform geschrieben, wurde mit dem ›National Book Award for Fiction‹ ausgezeichnet, sein vierter Roman, A Frolic of His Own (1994), ebenso. Sein fünftes und letztes Buch, Agapē Agape, erschien 2002 posthum.
Agapē Agape ist der Bewusstseinsstrom eines sterbenden Mannes über sein unvollendetes Lebenswerk. Während der namenlose Erzähler mit Lungenproblemen im Krankenhaus liegt und versucht, seinen Nachlass unter seinen drei Töchtern aufzuteilen, blättert er durch die umfangreichen Vorarbeiten zu seiner geplanten Abhandlung über die Geschichte des selbstspielenden Klaviers. Bücher, Notizen und Zeitungsausschnitte zur fortschreitenden Automatisierung der Kunst, ihrer Fälschung und Reproduzierbarkeit stapeln sich vor ihm. Das player piano ermöglicht durch Lochstreifen aus Papier (Notenrollen) die technische Simulation von musikalischem Können; es repräsentiert für William Gaddis »the pleasure of creating without work, practice, or the taking of time; and the manifestation of talent where there was none« (Gaddis 1951, n. p.), er setzt es pars pro toto für die zunehmende Mechanisierung der Kunst und die damit einhergehende Abwertung der Kunstschaffenden, die Abschaffung ihrer Autonomie. Gaddis’ Erzähler verliert sich – im wahrsten Sinne des Wortes – im Durchsehen seiner Dokumente; seine eigenen Gedanken verschmelzen bis zur Unkenntlichkeit mit Zitaten, bis sich im Zuge dieser Reise durch die dem Untergang geweihte Welt der Kunst seine eigene Identität als bloßes Plagiat erkennen zu geben scheint.
Den mit seinem körperlichen Niedergang konfrontierten Studienschreiber, dessen Monumentalwerk durch die Maßlosigkeit an Vorarbeiten vor der Niederschrift des ersten Satzes steckenbleibt, ereilt das klassische Schicksal Bernhardscher ›Geistesmenschen‹. Gaddis war in den frühen 1990er-Jahren auf »this madman, Bernhard« gestoßen, der ihm »[e]xcruciatingly funny« (Gaddis, zit. n. Ingendaay 1995: 16) und mit ähnlichen Problemlagen beschäftigt schien: Über die Unmengen an Material, die Gaddis für The Recognitions angesammelt und mit auf seine Reisen genommen hatte, mutmaßte er: »Perhaps it’s something Thomas Bernhard would understand[,] dragging a mountain of papers and newspaper cuttings all over the place, to be obsessed about books, and once you are obsessed with your work, you don’t notice these strange things.« (20) Das bald ausufernde Interesse für die Geschichte des mechanischen Klaviers hatte Gaddis schon 1945/46 während seiner Tätigkeit als fact-checker beim New Yorker entwickelt. Ausgiebige Recherchen für eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel The Secret History of the Player Piano begannen, über Jahrzehnte hinweg sammelte er Bücher, Artikel, Zeitungsausschnitte. Schon in J R (1975) hinterlässt dieser Konzeptionsprozess Spuren, wenn die Figur Jack Gibbs mit einer Studie zum selben Thema ringt, die bereits den Titel »Agapē Agape« trägt (vgl. Moore 2000, n. p.). In den 1990er-Jahren entschloss sich Gaddis, das Material nicht in die geplante Studie, sondern in einen fiktionalen Rahmen einzubetten, mündend zunächst in die Hörspielfassung Torschlusspanik für den Deutschlandfunk, dann in den Roman Agapē Agape. Bernhards Wiederholungs- und Variationskunst hat ihm dabei als »a model for his reconceived project, a minimalism that allowed him to transform (rather than abandon) his accumulated research« (Tabbi 2002: 103), gedient, so Joseph Tabbi, langjähriger Freund und Biograph Gaddis’.
Zu seinem »Cicero for all future engagements« (Gaddis, zit. n. Comnes 1998: n. p.) wird Thomas Bernhard durch den Roman Das Kalkwerk (1970), dessen Sprache Gaddis in dem an Muriel Oxenberg Murphy gefaxten Pastiche »In the Style of Thomas Bernhard« (vgl. Klebes 2020: 134) nachzuahmen versucht. Wie aus dem Archivkatalog der Washington University in St. Louis hervorgeht, besaß Gaddis mindestens die englischsprachigen Ausgaben von Auslöschung, Der Stimmenimitator, Der Untergeher und Wittgensteins Neffe. Besonders relevant für Agapē Agape waren Beton, Der Untergeher und Korrektur, aus denen Gaddis direkt zitiert und auf die er wiederholt anspielt. Agapē Agape ist, wie man im Vorwort liest, »a homage to Bernhard and, particularly, to [Beton]« (Birkerts 2002: xii). Im ersten Satz von Beton – einer Prosa, die ums Nicht-Schreiben des ersten Satzes einer seit Jahren geplanten Studie kreist (vgl. auch Jelinek) – erkennt sich der Ich-Erzähler so sehr wieder, dass er Thomas Bernhard ein Prä-Plagiat vorwirft:
(…) you’ll see what I mean, opening page you’ll see what I mean, »From March to December« he says, »while I was having to take large quantities of prednisolone,« same thing as prednisone, »I assembled every possible book and article written by« you see what I mean? »and visited every possible and impossible library« this whole pile of books and papers here? »preparing myself with the most passionate seriousness for the task, which I had been dreading throughout the preceding winter, of writing« where am I here, yes, »a major work of impeccable scholarship. It had been my intention to devote the most careful study to all these books and articles and only then, having studied them with all the thoroughness the subject deserved, to begin writing my work, which I believed would leave far behind it and far beneath it everything else, both published and unpublished« you see what this is all about? »I had been planning it for ten years and had repeatedly failed to bring it to fruition,« but of course you don’t no, no that’s the whole point of it! It’s my opening page, he’s plagiarized my work right here in front of me before I’ve even written it!
William Gaddis: Agapē Agape, New York: Viking Penguin 2002, S. 11f.
Bernhard habe seine eigenen Gedanken gestohlen, noch bevor er, der Erzähler, sie aufschreiben habe können (für einen ähnlichen Tatbestand vgl. Sauer). Damit verschwimmt die Trennlinie zwischen dem Erzähler und seinen literarischen Quellen endgültig. Dieses »thinking another man’s thoughts« (Gaddis 2002: 20) bildet nicht nur den thematischen Konnex zur mehr und mehr verlorengehenden Kunstauthentizität (vgl. auch Riviere), sondern verweist darüber hinaus auf eine Stelle aus Bernhards Korrektur:
(…) was Roithamer dachte, war auch mein Denken, was er verwirklichte, glaubte ich verwirklichen zu müssen, ich war zeitweise vollkommen von seinen Ideen und von seinem ganzen Denken in Anspruch genommen gewesen, (…) weil Roithamer dort gewesen war, hatte ich gar nicht mehr mein eigenes Denken denken können, sondern nur das Denken Roithamers, und das war Roithamer selbst sehr oft aufgefallen, daß es ihm unerklärlich und dadurch wieder unerträglich sei, sehen zu müssen, wie ich seinem Denken wenigsten unterworfen, wenn nicht ausgeliefert in allen seinen nur ihm gehörenden Gedankengängen folgte, gleich wohin, daß ich als mein Denken immer da sei, wo er als sein Denken sei und daß ich achtgeben sollte, mich nicht gänzlich aufzugeben, denn ein solcher nicht mehr in sich selbst seine eigenen Gedanken sondern in einem anderen, von ihm beherrschten und bewunderten oder auch nicht bewunderten sondern zwangsweise beherrschten Denken Denkender laufe fortwährend Gefahr, sich durch dieses fortgesetzte Denken des Andern statt des eigenen umzubringen, abzutöten.
Thomas Bernhard: Korrektur [= Werke 4], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 33f.
Gaddis greift diese Passage folgendermaßen auf:
No, no here he is again! Right there my words right there my idea he’s there ahead of me before I’ve even got it written down. He even writes about it this thinking another man’s thoughts, put me in danger of deadening myself out of existence that’s his phrase I simply haven’t existed since I couldn’t manage to think my own thoughts because my thinking had actually been his thinking you see? Following his thinking wherever it went so my thinking was always wherever his thinking had taken him those are my, those are his own words (…). Here he is yes, (…) he’s done it again! My idea, my life, my work stolen it before I can get it down on paper (…).
Gaddis: Agapē Agape, S. 20ff.
Um das »anticipatory plagiary« (Klebes 2020: 121) aufzuheben, ahmt Agapē Agape Bernhards monologisierenden, rekursiven, paragraphlosen Stil auf den ersten Blick zwar nach, geht über dessen Bewusstseinsströme und Fragmentiertheit jedoch weit hinaus. Während Gaddis’ Erzähler mit dem ›Sichten und Ordnen‹ seiner Dokumente und Notizen beschäftigt ist – »should have made two piles here to begin with, one books and articles and papers and clippings that are absolutely necessary the other those that aren’t absolutely necessary« (Gaddis 2002: 20), wiederum eine direkte Anspielung auf Rudolfs zwei Papierstapel in Beton –, gerät das Material immer weiter durcheinander und die Identität des Erzählers und von »the other« (Gaddis 2002: 22), »my plagiarist« (41), Bernhard also, verschmelzen schließlich. Es scheint nur konsequent, dass innerhalb des dichten Zitat- und Anspielungsgewebes des Romans, in dem Schriftsteller:innen und Philosoph:innen wie Freud, Flaubert, Huizinga, Melville oder Benjamin auftauchen, Bernhard kein einziges Mal namentlich erwähnt wird. Der Übersetzer Marcus Ingendaay, der in der deutschen Fassung Das mechanische Klavier (2003) Bernhardsche Stileigenheiten wie das hervorhebende Kursivieren oder ein gezielt positioniertes »naturgemäß« (Gaddis 2003: 31) bewusst hinzufügt, entscheidet sich dennoch, den Namen des Autors mehrmals zu nennen, womit die Verweise auch für uneingeweihte Leser:innen deutlich werden: »Ist dir aufgefallen, dass dieser Bernhard mich dauernd zitiert?« (Gaddis 2003: 31)
Lisa Akhila Plakolm
Literaturverzeichnis
Bernhard, Thomas: Korrektur [= Werke 4], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
Birkerts, Sven: »Introduction«. In: William Gaddis: Agapē Agape. New York: Viking Penguin 2002. S. ix-xxii.
Comnes, Gregory: »Unswerving Punctualites of Chance: The Aporetics of Dialogue in William Gaddis«. Internationales Kolloquium Reading William Gaddis/Lire William Gaddis, Orléans, 24.-25. März 2000, https://www.williamgaddis.org/critinterpessays/comnesaporetics.shtml.
Gaddis, William: Agapē Agape. New York: Viking Penguin 2002.
Gaddis, William: Excerpt from a Letter to Gregory Comnes, 1998. In: The Gaddis Annotations, https://www.williamgaddis.org/agape/wordsruin.shtml.
Gaddis, William: Das mechanische Klavier. Roman, übers. von Marcus Ingendaay. München: Goldmann Manhattan 2003.
Gaddis, William: »Stop Player. Joke No. 4«. In: The Atlantic Magazine (Juli 1951). S. 92-93, https://www.williamgaddis.org/nonfiction/stopplayer.shtml.
Gaddis, William und Paul Ingendaay: »Agent of Change. A Conversation with William Gaddis« (18.-19. Dezember 1995, East Hampton, Long Island, NY). In: The Gaddis Annotations, https://www.williamgaddis.org/nonfiction/index.shtml.
Klebes, Martin: »Gaddis before Bernhard before Gaddis«. In: Thomas Bernhard’s Afterlives, hg. von Stephen Dowden, Gregor Thuswaldner und Olaf Berwald. London, New York: Bloomsbury 2020. S. 119-137.
Moore, Steven: »The Secret History of Agapē Agape«. Internationales Kolloquium Reading William Gaddis/Lire William Gaddis, Orléans, 24.-25. März 2000, https://www.williamgaddis.org/critinterpessays/secrethistoryaa.shtml.
Tabbi, Joseph: »Afterword«. In: William Gaddis: Agapē Agape, New York: Viking Penguin 2002. S. 97-113.
Washington University in St. Louis, Einträge »William Gaddis«, Modern Literature Collection, William Gaddis, https://libguides.wustl.edu/c.php?g=1040037&p=7554530.