Thomas Bernhards internationales Echo
»Weltliteratur« (Bernhard 2015: 525) zu verfassen, hatte für Thomas Bernhard einen unerwarteten Nebeneffekt: Seine Werke fanden schon früh bei Leser:innen ein Echo, die selbst schreiben: »(S)oviele Bücher, die ich aufmache, beweisen mir, wieviele Schriftsteller meine Prosa gelesen haben. Andauernd kommen (…) lauter Enkel und mit diesen Enkeln verwandte Enkel meiner Figuren auf mich zu. Wirkung ist letztenendes etwas Furchtbares.« (Bernhard/Unseld 2009: 352) Einige der Angesprochenen sehen dies ähnlich, konfrontiert mit der Schwierigkeit, ihr eigenes Schreiben mit dem Sprachsog Bernhards zu versöhnen, der schon als Fluch, Sucht (vgl. Brandstetter) und Virus (vgl. Guibert) bezeichnet wurde, als regelrechtes »Unglück« (Kofler 1988: 105), andererseits auch als Belebung (vgl. Hustvedt) und »a kind of energy« (Lethem 2008: n. p.).
Auf welchen formalen, thematischen und stilistischen Elementen beruht dieser starke Effekt? Welche Gestalten nimmt er an in den mehr als vierzig Sprachen, in die der nach 1945 »am meisten stilprägende Autor« (Mittermayer 2007: 159) deutscher Sprache übersetzt wurde? Wie appropriieren Schriftsteller:innen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten Bernhardsche Eigenheiten im Laufe der Jahrzehnte? Wie nutzen sie sie als »Rampe ins eigene Erzählen« (Betz 2003: 72)? Wie positionieren sie sich im Spannungsfeld von Autonomie, Imitation und Transformation?
Bernhard’s imitability is infamous… and it’s become a truism for all of us writing in his shadow that we have to shield ourselves against his influence: close the books, walk away. But I find that I can’t really close the books, and I don’t want to.
Adam Ehrlich Sachs, Los Angeles Review of Books, 24. Juli 2019.
›GlobalBernhard‹ ist das erste Projekt, das internationale Antworten auf Thomas Bernhards Werk systematisch erfasst, kontextualisiert und mit Übersetzungen, Kommentaren und biobibliografischen Angaben digital zugänglich macht. Die rund 200 Autor:innen-Einträge veranschaulichen die Vielfalt an Auseinandersetzungen, die von Anspielungen und Zitaten über Auftritte von Bernhard-Figuren bis zu vollendeten Pastiches und aktualisierenden Adaptionen reichen. Ein Fokus liegt auf noch nicht ins Deutsche übersetzten Texten des 21. Jahrhunderts, etwa von Kari Hukkila (Finnland), Youssef Rakha (Ägypten), Jacek Dehnel (Polen), Emily Hall (USA) und Anuk Arudpragasam (Sri Lanka). Neben weniger bekannten Stimmen seit den 1960er Jahren, unter anderem Vitaliano Trevisan (Italien), Cyril Huot (Frankreich) und Nicole Filion (Kanada), sind auch häufig zitierte Bernhard-Anverwandlungen, wie von Imre Kertész (Ungarn), Geoff Dyer (England) und Horacio Castellanos Moya (El Salvador) berücksichtigt.
Die nach Ländern geordneten Einträge präsentieren vor allem Prosa, die von absurden Kurzgeschichten (Agustina Bazterrica) über Horror-Erzählungen (Thomas Ligotti) bis zu (Liebes-)Briefromanen (Gemma Salem) reicht, daneben Dramen und Dramolette (Benjamin von Stuckrad-Barre) und Gedichte (Israel Eliraz). Die Literatur-Porträts werden ergänzt durch Interviewaussagen und sonstige außerliterarische Stellungnahmen zum Autor (z. B. von Italo Calvino, Claire Messud, Karl Ove Knausgård, Jean Baudrillard). Die Gesamtheit der seit 2022 unter Mitwirkung von Studierenden der Vergleichenden Literaturwissenschaft entstehenden Texte soll einen Einblick in Bernhards literarisches Nachleben auf globaler Ebene geben, in die Tendenzen, Möglichkeiten und Herausforderungen der produktiven Rezeption, die über Zeit und Raum hinweg neue Perspektiven auf ein außergewöhnliches Werk eröffnet.