Barbi Marković

(Eintrag: Österreich / Serbien)

Barbi Marković wurde 1980 in Belgrad geboren, dem Schauplatz ihres ersten Werks Izlaženje (2006; dt. Ausgehen, 2009). Die Erzählung ist beim Belgrader Rende-Verlag erschienen, wo Marković auch als Lektorin gearbeitet hat. Sie studierte Germanistik in Belgrad und in Wien, wo sie seit 2006 lebt und Kurzgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele und Romane veröffentlicht. Aus ihrer Zeit als Stadtschreiberin von Graz im Jahr 2011/2012 ging das Werk Graz, Alexanderplatz (2012) hervor. Hinter dem an Döblin angelehnten Titel verbirgt sich eine Bestandsaufnahme sämtlicher Beschriftungen, die den Grazer Jakominiplatz, Griesplatz und Hauptplatz seinerzeit zierten, von Werbeanzeigen über Verbotsschilder bis Graffiti. Für ihren Großstadtroman Superheldinnen (2016), der auch im Wiener Volkstheater aufgeführt wurde, erhielt sie den Literaturpreis Alpha, den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis und den Priessnitz-Preis. In ihrem neuesten im Residenz Verlag erschienenen Roman Die verschissene Zeit von 2021, dem ersten, den Marković vollständig auf Deutsch verfasst hat, kehrt sie ins Belgrad der neunzehnneunziger Jahre zurück. 

Wie es sich anfühlen mag, mit Thomas Bernhard im Belgrad der frühen 2000er-Jahre clubben zu gehen, veranschaulicht ihr Erstlingswerk Ausgehen, ein Remix von Bernhards 1971 erschienener Erzählung Gehen. Während in Gehen drei ältere Herren durch Wien spazieren, einer abwesend aufgrund einer Nervenkrise mit folgendem Psychiatrieaufenthalt, feiern in Ausgehen drei junge Frauen in Belgrad, eine abwesend aufgrund akuter Übersättigung vom Nachtleben. Im Fokus beider Texte: Die Frage, wie – und ob überhaupt – man seine eigene Existenz in dieser Welt ertragen kann.

Der gesamte Lebensprozeß des Ausgehens ist ein Verschlimmerungsprozeß, in welchem sich fortwährend, und diese Gesetzmäßigkeit ist die grausamste, alles verschlimmert. Betrachten wir einen Clubber, müssen wir in kurzer Zeit feststellen, was für ein unerträglicher Clubber. Betrachten wir eine Party, müssen wir feststellen, was für eine entsetzliche, unerträgliche Party. Betrachten wir einen Club, gleich welchen Club, müssen wir in kurzer Zeit feststellen, was für ein unerträglicher Club. Gehen wir aus, sagen wir ja auch in der kürzesten Zeit, was für ein unerträgliches Ausgehen, wie, wenn wir tanzen, was für ein unerträgliches Tanzen, wie, wenn wir stehen, was für ein unerträgliches Stehen, wie, wenn wir denken, was für ein unerträgliches Denken.

Barbi Marković: Ausgehen, übers. von Mascha Dabić. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 12.*

 

In Bernhards Passage, die hier adaptiert wird, sind es neben dem Gehen, Laufen und Stehen auf allgemeinerer Ebene das Leben, die Natur und die Menschen, deren Unerträglichkeit beklagt wird:

Der ganze Lebensprozeß ist ein Verschlimmerungsprozeß, in welchem sich fortwährend, dies Gesetz ist das grausamste, alles verschlimmert. Sehen wir einen Menschen, müssen wir uns in kurzer Zeit sagen, was für ein entsetzlicher, was für ein unerträglicher Mensch. Sehen wir die Natur, müssen wir sagen, was für eine entsetzliche, unerträgliche Natur. Sehen wir etwas Künstliches, gleich welches Künstliche, müssen wir in kurzer Zeit sagen, was für eine unerträgliche Künstlichkeit. Gehen wir, sagen wir ja auch in der kürzesten Zeit, was für ein unerträgliches Gehen, wie, wenn wir laufen, was für ein unerträgliches Laufen, wie, wenn wir stehen, was für ein unerträgliches Stehen, wie, wenn wir denken, was für ein unerträgliches Denken.

Thomas Bernhard: Gehen, in: Erzählungen II [= Werke 12], hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 146f.

Marković setzt ihrer Adaption den Peritext »Thomas Bernhard Gehen [rmx] Barbi Ausgehen« voran – und setzt diesen Remix auch lautmalerisch um: Sie zitiert zunächst das Motto, das Bernhards Text vorangestellt ist, um es wie eine Platte anzuhalten und abzuwandeln: »Scratch. Ich beginne: (…)«. Ausgehen ist stark am Ursprungstext Gehen ausgerichtet, es handelt sich um »parallele Bücher mit gleicher Seitenanzahl und fast gleicher Anzahl von Sätzen« (Marković 2019: 11). In dieser Parallel-Konstruktion werden Schlüsselwörter wie ›sogenannt‹ beibehalten, genauso wie Kursivierungen und die syntaktischen Strukturen, wobei sich Bernhards verschachtelt lange Sätze in Markovićs Remix mit Ellipsen abwechseln. Hervor stechen auch die Wiederholungen: Wie im Hypotext kreist der Monolog um ein spezifisches Ereignis, das immer wieder angerissen wird, bis man schließlich erfährt, was geschehen ist: Bernhards Figur Karrer hat einen Nervenzusammenbruch erlitten; Markovićs Bojana hat einen Zustand des totalen Überdrusses am Ausgehen erreicht. 

Einige stilistische Merkmale werden von Marković stärker ausgereizt als in der Vorlage, vor allem die Inquit-Formeln. In Gehen spaziert der namenlose Ich-Erzähler an der Seite von Oehler und gibt die gesamte Zeit hinweg dessen Monolog wieder, der wiederum Aussagen des abwesenden Karrer einbindet. Die mehrfach gebrochene Wiedergabe von Gehörtem und Gesagten – »so Karrer, so Oehler zu Scherrer« (W12: 187) – treibt Marković in Ausgehen auf die Spitze: »Und wie lange sie schon ausgeht in Clubs und wie viele Auftritte sie schon in Belgrad gesehen habe, sagt Bojana, so Milica zu Milos, aber kein einziger war so gut! sagt Bojana zu Plastikman« (Marković 2009: 61f.; »A koliko dugo ona već izlazi po klubovima i koliko je već nastupa čula u Beogradu, kaže Bojana, kaže Milica Milošu, a ni jedan ovako dobar! kaže Bojana Plastikmenu.«, Marković 2006: 60). Die Ich-Erzählerin geht mit Milica aus, die darüber monologisiert, wie sie einem Dritten (Miloš) davon berichtet hat, was die abwesende Bojana getan und ihrerseits jemand anderem mitgeteilt hat. Die Zitate legen nahe, dass Marković neben Gehen weitere Werke Bernhards rezipiert hat, im Hinblick auf die Inquit-Eskalation vor allem Das Kalkwerk (1970): »(J)a, soll die Sägewerkerin im Sägewerksvorhaus zum Höller gesagt haben, so Konrad zu Fro: wer weiß, was jetzt geschieht und was für ein Mensch jetzt ins Haus kommt, damit, so meinte Höller, soll Konrad zu Fro gesagt haben, habe die Sägewerkerin auf einen neuen Sägewerker angespielt« (W3: 179). 

Gemäß dem Ziel Markovićs, »meine Geschichte zu erzählen, allerdings mit der wiedererkennbaren Melodie von Thomas Bernhard« (Marković 2019: 12), gibt es innerhalb des einheitlichen Bernhard-Sounds entscheidende Unterschiede: Ein zentraler und offensichtlicher ist, dass Ausgehen durch seine Hauptfiguren weiblicher und jünger ist. Urbanität spielt eine große Rolle, ebenso popkulturelle Elemente. Neben Anglizismen und umgangssprachlichen Begriffen ist der Text mit Verweisen auf tatsächlich existierende Künstler:innen wie den Musiker und DJ Richie Hawtin alias Plastikman aufgeladen, an einer Stelle zählt Marković sie sogar unverbunden über fast eine halbe Seite auf (vgl. Marković 2009: 85). Auch formal löst sich Marković mitunter vom Ausgangstext, so ist die serbische Fassung Izlaženje immer wieder von kurzen, durch das Schriftbild vom Rest abgesetzten Textblöcken durchtrennt, teilweise mitten im Satz. Diese Textblöcke enthalten Songtitel und Namen von Interpret:innen, ähnlich einer Playlists aus Musikdateien. Die deutsche Übersetzung von Mascha Dabić verzichtet, anders als das serbische Original, auf Fettdruck und Leerzeilen, und erschafft damit ein dem Bernhardschen Ausgangstext stärker entsprechendes Erscheinungsbild.

Es ist überraschend, wie gut sich der Hypotext auf das stark abweichende Clubbing-Umfeld übertragen lässt. Einzelne Stellen haben einen irritierenden Effekt, etwa, wenn Milica mit Bojana plötzlich über Wittgenstein (Marković 2009: 81) spricht, was, anders als auf der Wiener Friedensbrücke beim Spaziergang, auf den ersten Blick deplatziert wirkt inmitten der als blasiert und geistlos porträtierten Feiernden (vgl. 90). Die Verknüpfung von Geisteswelt und Clubszene nutzt Marković produktiv, um die Widersprüche und Brüche, mit denen die Protagonist:innen leben müssen, zu veranschaulichen. Das Thema des Weggehens spielt in diesem Zusammenhang in beiden Texten eine Rolle: Die ungeliebte Situation, das ungeliebte Land zu verlassen, erscheint unvorstellbar. Im Kontext Serbiens erhält dieser Aspekt zusätzliche Relevanz, wie man an Markovićs Ausführungen zum Originaltitel ablesen kann, der doppeldeutiger sei als der Titel der deutschen Übersetzung: ›Izlaženje‹ kann am ehesten mit dem österreichischen ›Fortgehen‹ verglichen werden, weil es sowohl ›Ausgehen‹ (im Sinne von Feiern gehen) als auch ›Weggehen‹ meint (vgl. Messner/ Schörkhuber: n. d.).

Auch wenn der Jugoslawienkrieg in Markovićs Rewriting die unterschwellige Basis bildet (vgl. Aust 2020), weist der Text dennoch zu keinem Zeitpunkt explizit darauf hin. Doch die Verstörung, die die Protagonistinnen ergriffen hat, wird auch ohnedies deutlich: Anstelle von gelingender Kommunikation reihen sich atemlose Wiederholungsketten aneinander, die mitgehende Ich-Erzählerin tritt mit ihrer Umwelt in keinen echten Austausch. Bei Bernhard werden zunächst subtil, später expliziter Kriegstraumata, Verfolgungen und unaussprechliche Gewalt angedeutet: Oehler stellt sich nach seiner Rückkehr aus Amerika »monatelang« immer die gleiche Frage: »Wohin sind all diese Menschen, Freunde, Verwandte, Feinde, hingekommen? (…) Waren es nicht Hunderte und Tausende Namen? habe er sich gefragt. Wo sind alle diese Menschen, mit welchen ich damals, vor dreißig Jahren Kontakt gehabt habe?« (W12: 211). Marković, angezogen von der Idee »skrupellos, willkürlich Wörter zu übersetzen, ohne auf den Kontext des Originals Rücksicht zu nehmen« (Marković 2019: 13), setzt mit Blick auf die Verschwundenen an dieser Stelle auf eine Profanisierung, die im direkten Vergleich allerdings durchaus als Illustration einer anhaltenden Verdrängung und zugleich Kritik an einer allzu oberflächlichen Popkultur gelesen werden kann: »Wo sind alle diese schönen Menschen, die ich in (Zeichentrick-)Filmen und Comics sehen kann und die ich auf Belgrader Straßen nicht sehen kann? (…) Wo sind alle diese Menschen, Cyborgs, Aliens, Mutanten?« (Marković 2009: 80; »Gde su svi ti lepi ljudi, koje gledam u (crtanim) filmovima i stripovima i koji ne hodaju beogradskim ulicama? Pitala sam se, kaže Milica. (...) Gde su svi ti ljudi, kiborzi, ejlieni, mutanti?«, Marković 2009: 77). Das anhaltende Wissenschafts- und Publikumsinteresse »an diesem kleinen Buch« führt Marković auf ebendiese Brüche und »Kontraste zwischen fremd und einheimisch, weiblich und männlich, Hochkultur und Subkultur« zurück: »Den Lesern gefiel es, dass ich ihren nationalen, mit Autorität ausgestatteten Schriftsteller genommen, auf den Balkan umgesiedelt, ihm einen Mini-Rock angezogen und auf ein Techno-Konzert geschickt hatte.« (Marković 2019: 12)

 

Jana Kramer

Zitate im Original

* »Čitav životni proces izlaženja je proces pogoršavanja u kome se stalno, a to je najužasnija zakonitost, sve pogoršava. Ako posmatramo klabera, uskoro moramo zaključiti kako je užasan, kako je nepodnošljiv taj klaber. Ako posmatramo žurku, moramo zaključiti, kako je žurka užasna, nepodnošljiva. Posmatramo li neki klub, svejedno koji klub, uskoro moramo zaključiti, kakav nepodnošljiv klub. Kad izlazimo, u najkraćem mogućem roku kažemo, kako je nemoguće izlaziti, ako igramo, kako je nepodnošljivo igrati, isto tako kad stojimo, kako je nepodnošljivo stajati i isto tako, kada razmišljamo, kako je nepodnošljivo razmišljati.« (Marković 2006: 12)

Literaturverzeichnis

Aust, Robin M.: »›Hier ist Aufhängen und In-den-Fluß-springen.‹ Ritual und Manie, Exzess und Eskapismus in Thomas Bernhards Gehen (1971) und Barbi Markovićs Ausgehen (2009)«. In: Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹, hg. von Carsten Gansel. Berlin, Boston: De Gruyter 2020. S. 327-348.

Bernhard, Thomas: Gehen. In: Erzählungen II [= Werke 12], hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. 

Bernhard, Thomas: Das Kalkwerk [= Werke 3], hg. von Renate Langer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 

Marković, Barbi: »Die Ansteckung«. In: SALZ. Zeitschrift für Literatur 2019, Nr. 176 (»Zu Thomas Bernhard«). S. 11-14. [Zuerst im Rahmen der Vorlesungsreihe »Warum Bernhard?« in der Nationalbibliothek Serbiens, 15. Juni 2011, übers. von Mascha Dabić.]

Marković, Barbi: Ausgehen, übers. von Mascha Dabić. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.

Marković, Barbi: Izlaženje. Beograd: Rende 2006.

Messner, Elena, und Eva Schörkhuber: »turn the table. Gespräch mit Barbara Marković«. In: Textfeld Südost, n. d.