Olja Alvir
Olja Alvir
(Eintrag: Bosnien und Herzegowina / Österreich)
Olja Alvir wurde 1989 in Jugoslawien geboren und ist in Wien aufgewachsen, wo sie als Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und freie Autorin arbeitet. Neben ihrer (kultur)journalistischen Tätigkeit zu v. a. sprach-, migrations- und kulturpolitischen Themen für diverse österreichische Medien publiziert Alvir seit ihrem Debütroman Kein Meer (2016) regelmäßig Prosa und Lyrik; 2022 erschien der dreisprachige Gedichtband Spielfeld.
Ich weiß, wovon ich spreche, ich habe in Sarajevo Kafka studiert, Kafka und Goethe. Kafka-Studierende müssen zum Schluss kommen, nichts weiter hinzufügen zu können zu dem, was Kafka geschrieben hat, und müssen ihre Arbeit niederlegen, sonst sind sie nicht ernst zu nehmen. Wer Kafka einfühlsam liest und eifrig studiert und glaubt, er oder sie könne nach der Lektüre Kafkas Gesamtwerks noch etwas hinzufügen, muss größenwahnsinnig sein oder größenwahnsinnig geworden sein. Vielleicht ist das auch eine Wirkung von Kafkas Texten, dass sie die Menschen immer größenwahnsinniger und größenwahnsinniger werden lassen, ihnen das Gefühl vermitteln, sie hätten durch Kafka-Lektüre immer mehr verstanden, statt immer weniger.
Olja Alvir: Kein Meer, Wien: Zaglossus 2016, S. 186.
Das Ich, so stellt man nach Lektüre von Kein Meer (2016) fest, entsteht an der Schnittstelle von Erinnerungen und Körperfunktionen: Am Ende der in Bernhards Erzählung Amras (1964) diagnostizierten »ungeheuere[n] Anzahl verheerender, alles bedeutender Existenzmöglichkeiten« (W11: 150) finden wir bei Alvir ein »chronisch-chronologisch angestautes Selbst« (Alvir 2016: 191). Weil eine solche Stauung jeden Fluchtpunkt verstellt, wird jeder Ort zum ›Turm‹ im Sinne Amras, also Schutzraum und Gefängnis zugleich.
In Alvirs Roman heißt dieser Turm Österreich, das Land, in das die Protagonistin Lara Voljić als Kind mit ihren Eltern vor dem Krieg in Jugoslawien flieht. Als »sogenannte Migrantin der zweiten Generation« (Alvir 2016: 23) konstatiert sie früh, sei sie »zu jung, um das Recht zu haben, vom Krieg traumatisiert zu sein. Und […] zu alt, um nichts mehr davon wissen« (8). Nachdem sie das Tagebuch ihres verstorbenen Großvaters findet und über den vermeintlichen Heldentod ihres Onkels liest, versucht sie herauszufinden, was mit dem Onkel zwanzig Jahre zuvor passiert ist; eine Spurensuche, die der Roman als Collage unterschiedlicher Prosaformen, Emails, Tweets, Einaktern und Blogeinträgen kompiliert.
Das Gegenstück zu diesem – von den Familienmitgliedern gehüteten – Wissen sind die tatsächlichen Körper, in die sich Erinnerungen einschreiben und die die Beauty-Bloggerin Lara der sterilen Ästhetik der Mode- und Schönheitsindustrie entgegenhält. Parallel zu den oft chronisch kranken, asthenischen Geistesmenschen Bernhards, die ihre Körper rücksichtlos disziplinieren (vgl. Damerau 1999: 164f), verweist uns Laras »Rotation um meinen eigenen Körper« (Alvir 2016: 31) wieder und wieder auf das Unmittelbare der Leiblichkeit, auf die oft schmerzhaften physischen Resultate psychischer und kultureller Formgebung, auf Akne und Bulimie, Autotomie und Depression.
So unterschiedlich die Verlaufslinien sind, stellen Kein Meer und Amras dieselbe Frage mit unterschiedlichen Betonungen – eine Frage, die sich nur den Überlebenden stellt: »warum wir noch leben müssen« (W11: 117). Während die Familie der Brüder Walter und K. mit Tabletten aus dem Leben scheidet, halten diese das Einzelkind Lara in Form von Schlafmitteln und Antidepressiva im und am Leben; eine Pointe, die im Wortwechsel mit der Tante realisiert wird, die behauptet, »›man will ja nicht sein ganzes Leben lang Tabletten nehmen.‹ Doch, dachte ich mir, doch, ich schon. Ich muss und ich will.« (Alvir 2016: 206). Pharmazeutisch sichergestellt wird für Lara vor allem Ruhe (vgl. Alvir 2016: 195, 202); jene, die schon die Brüder M. brieflich für sich einfordern, wenn sie schreiben »wir wünschen im Augenblick nichts, als in Ruhe gelassen zu sein.« (W11: 113)
Auch erzählerisch bewegt sich Alvir durchaus in der Tradition von Amras oder Ungenach (1968): An die Stelle des Monologisierens anhand eines Konvoluts an Textfragmenten aus dem Nachlass tritt ein kaleidoskopartiger Querschnitt durch digitale und analoge Medien, autodiegetische Erinnerungen und heterodiegetische Gegenwarten. Sprachlich konzentriert sich, jenseits einiger Komposita wie »Enthaarungsfesselstellung« (Alvir 2016: 36) oder »Diktatorenschlagbaumschleife« (70), das bernhardeske Moment des Romans, der wiederum mit dem Großvater endet (wenn auch nicht als ›eigentlicher Philosoph eines jeden Menschen‹), auf ein Kapitel: Es beginnt mit vernichtenden Überlegungen zur Kafka-Rezeption, um – über den Umweg der Abfertigung eines ehemaligen und eines zukünftigen Nobelpreisträgers – bei Schachliteratur zu landen, bei einer Pathologie des Wahnsinnsdiskurses:
In ihren Schachbüchern interessiert sie viel weniger der Spielvorgang als vielmehr der Wahn, den sie hinter jedem Schachgenie vermuten. Wer ein Schachgenie ist, muss ein Wahnsinniger sein, denken die Autoren, überhaupt ist Schachliteratur eine einzige Wahnliteratur. Die Literaten wollen gar nicht über Schach schreiben, sondern über den Wahnsinn, und wenn du mich fragst, dann ist das der eigentliche Wahn. Wenn du in jedem Genie, in jeder Hingabe einen Wahn vermutest, dann stimmt etwas mit dir nicht. Die meisten Schachspieler sind langweilige Leute, überhaupt keine Wahnsinnigen und erst recht keine Genies. Hart arbeitende Sportler sind sie, und absolut uninteressant ist der Schachsport, voller Leeren und Gähnen und reglosem Sitzen vor dem Schachbrett. Ich kann sie nicht mehr lesen, diese Schachliteratur. Nichts ist dem Schach ferner als die Schachliteratur, nichts dem Schachspieler ferner als das Wahngenie.
Alvir: Kein Meer, S. 188f.
Forscht man über den Roman hinaus genauer nach, stößt man (mit etwas Glück) auf eine Rezension der Schriftstellerin aus dem Jahr 2011, in der sie die Veranstaltung »Bernhard – Ein Requiem zum 80er« im Wiener Volkstheater beschreibt: Es bestehe »ein seltsames Bedürfnis danach […], zu rekonstruieren, was Bernhard wohl gedacht, gesagt oder getan hätte. Was Bernhard über die Bernharddämmerung wohl geschrieben hätte.« (Alvir 2011: n. p.)
Während man über die Stilimitation der Darsteller:innen streiten könne, sei die eigentliche »Katastrophe« die Reaktion des »angesoffene[n]/zugekokste[n]/idiotische[n]/bezahlte[n]« Publikums (Alvir 2011: n. p.), das sich eingeweiht von den Beschimpfungen ausgenommen fühlt: Man lacht, »obwohl es ums Ersticken geht. Alle diese widerlichen Burgtheaterabonnementbesitzer (ich möchte keinesfalls sagen – genau die, gegen die Bernhard angeschrieben hat)[,] die fühlen sich jetzt in seinem Todesdunstkreis sicher und bewaffnen sich mit bebendem Zwerchfell gegen die Tragödie.« (Alvir 2011: n. p.) Alvir schließt mit einem phantastischen Hoffnungsbild, dem, »dass Bernhard anlässlich aller Vermutungen anfängt, im Grab mit Überlichtgeschwindigkeit zu rotieren, sich dadurch in der Zeit rückwärts bewegt und uns dann… ja was?« (Alvir 2011: n. p.).
Vielleicht würde er nach Lektüre von Kein Meer sein Novalis-Motto auf den Kopf stellen: Das Wesen des Lebens ist so dunkel wie das Wesen der Krankheit.
Clemens Braun
Literaturverzeichnis
Alvir, Olja: »Ein Requiem für Thomas Bernhard – erstickt am Lachen«. In: Pentamica, 10. Februar 2011, pentamica.wordpress.com/2011/02/10/ein-requiem-fur-thomas-bernhard-erstickt-am-lachen/, nicht mehr online [Privatbesitz der Autorin].
Alvir, Olja: Kein Meer. Wien: Zaglossus 2016.
Bernhard, Thomas: Amras. In: Erzählungen I [= Werke 11], hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.
Damerau, Burghard: »Geistesdämmerung und Körperkult. Inhalt und Form in Thomas Bernhards Werk«. In: Alexander Honold; Markus Joch (Hg.): Thomas Bernhard. Die Zurichtung des Menschen. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. S. 161-173.