Robert Menasse

(Geb. 1954 in Wien)

Kurz vor Thomas Bernhards Tod saßen er und ich wieder einmal zufällig gemeinsam im Bräunerhof. Es war ein ziemlich warmer Tag und die Fenster waren geöffnet. Plötzlich flog ein riesiger schwarzer Vogel ins Kaffeehaus, eine Art russische Saatkrähe, ich bin kein Ornithologe, vielleicht war es auch ein Rabe, jedenfalls ein großer schwarzer Vogel. Er hatte sich ins Kaffeehaus verirrt, flog in Panik im Kreis und fand den Weg hinaus nicht mehr. Die Oberkellner versuchte mit flügelschlagenden Armbewegungen, ihn in Richtung Fenster zu scheuchen. Es war ein vollkommen groteskes Bild. Der Vogel flog weiterhin panisch hin und her und fand nicht nach draußen. Das ganze Café war in heller Aufregung, alle waren aufgesprungen und versuchten zu helfen. Der Vogel wurde immer hektischer. Ein einziger Mensch saß vollkommen regungslos und unbeweglich, so, als würde er gar nichts bemerken, das war Thomas Bernhard. Er war der einzige Ruhepol im Café. Er saß ganz ruhig dort und las – ich bilde mir ein, mit leichtem Grinsen, aber ich kann es nicht beschwören – Zeitung. Und wohl weil er der einzige Ruhepol war, setzte sich der Vogel, der schon nicht mehr wusste, was er machen sollte, auf die Schulter von Thomas Bernhard. Kaum saß der Vogel dort, war das ganze Café – die Ober, die Gäste, alle – wie erstarrt. Es war, als wäre in einem hektischen Film ein Standbild festgefroren. Thomas Bernhard reagierte überhaupt nicht. Alle starrten und verharrten in der Bewegung, die sie gerade als letzte gemacht hatten, bevor sich der Vogel niedergelassen hatte. Dann blätterte Thomas Bernhard die Zeitung um. In diesem Moment flog der Vogel auf und zwar direkt durch das Fenster nach draußen. Ein paar Tage später war Thomas Bernhard tot.

Menasse, Robert: »Robert Schindel zum Beispiel beherrscht das Café Prückel«. In: Im Kaffeehaus. Gespräche, Fotografien, hg. von Sepp Dreissinger. Wien: Album Verlag 2017. S. 38-43, hier S. 42.